Staatsversagen
4. Januar 2025
Neue Doku zum Versagen von Polizei, Justiz, Ermittlungsbehörden und Politik im Fall Oury Jalloh
»Staatsversagen« – so hieß der letzte Teil der sechsteiligen ARD-Dokumentation »Warum verbrannte Oury Jalloh?«. Kaum jemand hat die offizielle Story über den Tod von Oury Jalloh geglaubt, der sich gefesselt auf einer feuerfesten Matratze in einer Dessauer Polizeistation am 7. Januar 2005 angeblich selbst mit einem Feuerzeug entzündet und verbrannt haben soll. Zweifel daran wurden auch durch Filme wie »Tod in der Zelle« von Pagonis Pagonakis 2006, die Dokumentation »Oury Jalloh« von Simon Jaikiriuma Paetau 2008 und 2015 mit dem Tatort »Verbrannt« in der Regie von Thomas Stuber genährt. Die neue Doku, die aktuell noch in der ARD-Mediathek zu finden ist und ab 6. Januar 2025 im MDR läuft, präsentiert nun neue, unglaubliche Erkenntnisse und wirft grundsätzliche Fragen auf – in Dessau und darüber hinaus.
Der Bürgerkriegsflüchtling Oury Jalloh floh aus seiner Heimat Sierra Leone zunächst ins Nachbarland Guinea zu seinen Eltern und dann weiter nach Deutschland. Nach einem abgelehnten Asylantrag lebte er als Geduldeter in Deutschland und hatte mit seiner deutschen Lebensgefährtin ein Kind, das die Mutter nach der Geburt zur Adoption frei gab. Oury Jalloh war wegen gewerbsmäßigen Drogenhandels verurteilt worden, aber das Urteil war noch nicht rechtskräftig. Auch wegen des Verlustes seines Kindes hatte er sich betrunken und nachts Frauen eines Reinigungstrupps um ein Telefon gebeten, weil sein Guthaben verbraucht war. Die riefen die Polizei, die aus der Belästigung sofort eine schwere Belästigung machte und Oury Jalloh brutal gegen bestehende Polizeirichtlinien in die Dessauer Polizeidienststelle brachte, durchsuchte, ärztlich untersuchen ließ, in eine feuersichere Isolierzelle sperrte und fixierte – angeblich, um Selbstverletzungen zu verhindern. Bei der Durchsuchung wurde, amtlich dokumentiert, auch kein Feuerzeug gefunden. Stunden später wurde er fixiert und verbrannt in seiner Zelle gefunden.
Was in den folgenden fast 20 Jahren geschah, ist wohl einer der größten deutschen Justizskandale der Nachkriegsgeschichte, denn bis heute ist kein Täter belangt worden. In einem ersten Prozess in Dessau wurden die angeklagten Polizisten 2008 freigesprochen. Der Richter hatte erhebliche Zweifel an der polizeilichen Darstellung, die die Aufklärung unmöglich gemacht hätte. Die Beamten, die das Gericht belogen haben, hätten auf einer Polizeistation nichts zu suchen, so der Richter. Eine Bewertung ohne Folgen. Nach einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht wurde das Urteil revidiert, der Fall der Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau entzogen und 2011 vor dem Landgericht Magdeburg neu verhandelt. Am Ende wurde der stellvertretende Dienstgruppenleiter der Polizeistation Dessau wegen Fahrlässigkeit mit Todesfolge zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Er hatte den Feueralarm aus der Zelle zweimal ausgestellt und damit frühzeitige Rettungsmaßnahmen verhindert. Eine erneute Klage der Angehörigen vor dem Bundesverfassungsgericht wurde abgewiesen. Die Familie legte Ende 2022 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ein.
Was Aufgabe des Staates bei einem Todesfall in Polizeigewahrsam sein sollte, leisteten die afrikanische Community und Unterstützer:innen. Sie organisierten neben Öffentlichkeit auch eine zweite Autopsie, die vielfache Gewalteinwirkungen beim Opfer und einen Adrenalingehalt feststellte, der den Tod des Opfers zeitlich vor dessen Verbrennung einstufte. Erst dann wurde das angeblich gefundene Feuerzeug mit Brandschutt aus einer polizeilichen Brandtüte untersucht, das nicht zum Tatort passte und offensichtlich später als Asservat beigefügt wurde. Die Staatsanwaltschaft hatte die zweite Obduktion ebenso abgelehnt wie ein Brandgutachten, das die Angehörigen in Irland beauftragten. Darin wurde festgestellt, dass die Entzündung des Opfers in der Zelle nur mit Brandbeschleuniger durch Dritte möglich war.
Richter und Staatsanwälte haben sich von aussageunwilligen Polizisten täuschen lassen, hatten wichtige Untersuchungen verhindert und damit die Aufklärung eines wahrscheinlichen Mords behindert. An der Verschleierung der Tat durch ein gefälschtes Asservat waren offensichtlich weitere Personen beteiligt, im Landtag informierte die Justizministerin das Parlament fehlerhaft. Zudem stellte sich heraus, dass es bereits zwei weitere Todesfälle in der Dessauer Polizeidienstelle gegeben hatte (siehe Spalte). Im Falle Jallohs sollten offensichtlich frühere gewaltsame Todesfälle in derselben Dienststelle verdeckt werden, wie in der Doku angemerkt wird.
Polizei, Justiz, Staatsanwaltschaft und Politik in Dessau haben komplett bei der Aufklärung mehrerer Todesfälle in Polizeigewahrsam versagt. Was ist los mit einem Staat, auf dessen Institutionen sich Bürger:innen nicht verlassen können, weil Fragen wie Cop-Culture sowie Rassismus in der Gesellschaft und in Sicherheitsbehörden bei der Aufklärung ausgeblendet werden? Der Staat ist bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen in der Pflicht, und er bleibt es auch in Dessau. Und er benötigt beim Verdacht von Polizeigewalt dringend unabhängige Kontrollorgane und Beschwerdestellen, wie sie in anderen Ländern längst gängige Praxis sind.
Mehrere Todesfälle in
derselben Wache
Der mehrfache Familienvater Hans-Jürgen Rose war nach einer Alkoholfahrt am 7. Dezember 1997 nachts nur wenige Stunden in derselben Dessauer Polizeizelle wie Oury Jalloh gelandet. Er wurde zwei Stunden nach seiner Entlassung mit schwersten Verletzungen, an denen er am Folgetag starb, in der Nähe der Wache gefunden. Am 29. Oktober 2002 wurde der Obdachlose Mario Bichtemann in die Dessauer Polizeistation verbracht und starb dort an einem Schädelbasisbruch. Die Ermittlungsverfahren in beiden Fällen wurden später eingestellt.