Offene Wunden
9. September 2013
Gedanken über den Umgang mit Verbrechen der Stalinära
Juli-Aug. 2013
Zeitgleich laufen in Berlin zwei Ausstellungen, die sich mit Aspekten des Terrors in der Stalinära beschäftigen. Das Deutsche Historische Museum präsentiert im Pei-Bau die von der Stiftung Gedenkstätte Buchenwald und der russischen Menschenrechtsorganisation »Memorial« erarbeitete Schau »Gulag. Spuren und Zeugnisse 1929-1956« und in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand erinnert die Ausstellung »Ich kam als Gast in euer Land gereist …« an Familienschicksale deutscher Hitlergegner, die Opfer des Stalinterrors wurden.
Beide Ausstellungen hinterlassen einen tiefen Eindruck und ihr Besuch ist zu empfehlen- wenn man mit dem Widerspruch leben kann, dass mehr zu erfahren nicht auch bedeuten muss, mehr zu verstehen. Mit welchen Gedanken Besucher die Präsentationen verlassen, die wenig über die barbarischen Kriege und Kämpfe des 20. Jahrhunderts wissen, ist schwer zu sagen. Vor allem in dem von Schulklassen und Touristen frequentierten DHM dürften sie jedoch die Mehrheit der Betrachter ausmachen.
Es handelt sich dabei um ein generelles Problem der Vermittlung von Geschichtsbildern, denn es gibt keine »objektive« Sicht auf die Geschichte. Je weiter die eigene Lebenswelt und die persönlichen Erfahrungen von einem historischen Gegenstand entfernt sind, desto schwieriger ist seine angemessene Darstellung. Vermittler und Rezipienten bringen in jedem Fall ihre kulturellen und sozialen Erfahrungen ein – sie projizieren ihre Sicht in die Geschichte. Die Macher der GULAG-Ausstellung ordnen so die Geschichte der Straf- und Arbeitslager ein in ihr Bild von der Sowjetunion. Es ist, was nicht verwundert, die Sicht ihrer Gegner nach deren Sieg. Ihre Grundthese lautet: Die Sowjetmacht konnte sich nur mittels Terror halten. So wie Stalin die Macht in der KPdSU mit Gewalt eroberte, regierte er danach das Land mit Angst und Schrecken, Den Antagonismus zwischen den erklärten politischen Zielen der Sowjetmacht und dieser Form der Machtausübung lösen die Ausstellungsmacher auf, in dem sie erstere zu Propaganda erklären. So einfach können es sich die Parteigänger des Sozialismus nicht machen. Ihnen bleibt die schwere Arbeit vorbehalten, die Verbrechen des Stalinismus zu bekennen, doch darüber hinaus auch um das Verständnis ihrer Ursachen zu ringen. Das sind sie den Opfern schuldig, ihrer Sache – und sich selbst.
Da es jahrzehntelang kaum eine gesellschaftliche Auseinandersetzung zu dem Thema gab, die Verbrechen verschwiegen, verleugnet oder verharmlost wurden und die Frage, welche Folgen die institutionalisierte Gewaltherrschaft in der Gesellschaft hinterließ, bis heute nicht öffentlich debattiert wird, leisten Projekte wie die Gulag-Ausstellung einen Beitrag zur Aufklärung, auch wenn ihre ideologischen Prämissen kritisch zu hinterfragen sind.
Ob jedoch deutsche Besucher dieser Ausstellung in der Lage sind, selbständig einen Bezug zu den unermesslichen Verbrechen herzustellen, die Nazideutschland im Krieg gegen die Sowjetunion genau in jener Zeit verübte, scheint mir zweifelhaft. Über andere lässt sich immer einfach richten.
Die zweite, in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand gezeigte Ausstellung, ist ein Ergebnis der Arbeit der Projektgruppe Sowjetexil bei der Berliner VVN-BdA, deren Antrag auf Anbringung einer Gedenktafel am Karl-Liebknecht-Haus in den vergangenen Monaten hitzige Debatten ausgelöst hat. Sie präsentiert jeweils auf deutsch und russisch Fotos und Dokumente verfolgter deutscher Antifaschisten, die vor allem der so genannten »deutschen Operation« im Jahr 1936 zum Opfer fielen. Das Besondere an dieser Ausstellung ist, dass hier Hinterbliebene ihre eigene Familiengeschichte dokumentieren. Eine ungewöhnliche und berührende Form, die Traumata zu überwinden, die mit dem Entsetzen einhergehen, nicht von den Feinden, sondern von den »eigenen Leuten« vernichtet zu werden.
Die Ausstellungmacher setzen ganz auf die Wirkung der nüchtern dokumentierten Lebens- und Verfolgungsgeschichten. Im Unterschied zur Gulag-Ausstellung enthalten sie sich jeder Deutung. Den beigegebenen Erklärungstafeln ist zu entnehmen, dass das Politbüro der KPdSU die »deutsche Operation« billigte und ihm auch eine Namensliste vorlag. Doch das macht alles eher noch unbegreiflicher. Wie entsteht eine solche Verblendung? Die Betroffenheit, mit der man die Ausstellung verlässt, wurzelt zu einem guten Teil in diesem Gefühl völliger Ratlosigkeit.
Was dem Besucher der Ausstellung in der gewählten Form vorenthalten bleibt, sind die Erinnerungen und Reflexionen von Überlebenden des stalinistischen Terrors. Zum Glück gibt es die aber. Drei Bücher haben meinen eigenen schmerzhaften Weg des Verstehens von Zusammenhängen in Gang gesetzt und begleitet. »Totgesagt« von Trude Richer, »Das Exil der Gabriele Stammberger« von Michael Peschke und »Treibeis am Jenissej« von Walter Ruge. Sie sind alle noch antiquarisch zu erhalten.