Billige »Erinnerungskultur«
5. September 2013
Deutsch-italienischer Historikerbericht klammert Entschädigung aus
Mai-Juni 2013
Die Historiker haben Hunderttausende von Akten ausfindig gemacht – Personalakten in Ministerien, Tagebücher, Briefe, Fotografien, zum Teil in Privatbesitz. Die warten noch auf ihre Auswertung, aber das bisher »politisch dominante Interpretationsmuster« müsse wohl modifiziert werden. So seien die Beziehungen zwischen Italienern und Deutschen weit weniger gewaltbeladen gewesen als hinterher wahrgenommen, das Ausmaß von Kollaboration und freundschaftlichen Beziehungen weit größer.
Forschung statt Entschädigung: Die deutsch-italienische Historikerkommission, die Ende voriges Jahr ihren Abschlussbericht vorgelegt hat, ist ein besonderes Beispiel für die politische Instrumentalisierung von Geschichte. Ins Leben gerufen wurde sie 2008, um einen »Beitrag zur Schaffung einer gemeinsamen Erinnerungskultur« zu leisten. Doch bei der Erinnerung an die Vorgeschichte der Kommission versagen die Fachleute unter Führung von Wolfgang Schieder und Mariano Gabriele.
Kein Wort davon, dass ihre Einrichtung von der deutschen Regierung just in jenem Jahr beschlossen worden war, in dem das oberste italienische Gericht Deutschland zu Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe an NS-Opfer verurteilt hatte. Dutzende weiterer Klagen standen vor der Entscheidung. Die Bundesregierung entschloss sich zu einem zweigleisigen Abwehrmanöver: Gegen die italienische Justiz zog sie vor den Internationalen Gerichtshof (mit Erfolg: der IGH wies voriges Jahr die italienischen Ansprüche als »Verletzung der Staatenimmunität« zurück), und zur politischen Besänftigung vereinbarte sie mit der italienischen Regierung die Gründung eben jener Kommission. Die wurde mit über 350.000 Euro ausgestattet, das war weit billiger, als die Opfer zu entschädigen. Die italienische Regierung machte den Deal mit, weil sie ihrerseits befürchtete, von Opfern faschistisch-italienischer Verbrechen verklagt zu werden.
Es war also die Funktion der Historiker, ein Alibi für die Entschädigungsverweigerung der Bundesregierung zu liefern. Als Lohn dafür, diesem Auftrag ohne Murren nachgekommen zu sein, dürfen sie mit weiteren Forschungsaufträgen rechnen. Denn die aufgezeigten Forschungslücken sind eklatant. So gibt es bis heute keine Gesamtdarstellung der Kriegsereignisse auf italienischem Boden. Weiße Flecken gibt es vor allem im Bereich der sogenannten Erfahrungsgeschichte. Das meint: Die während des Krieges festgehaltenen Erfahrungen weichen von den später und bis heute gepflegten Erinnerungen teilweise gravierend ab, was zweifellos eine »zusätzliche historische Perspektive« eröffnet, wie es im Bericht heißt. Zudem haben sich nach dem Krieg in beiden Ländern »höchst antagonistische Legendenbildungen« vollzogen. Auf deutscher Seite sei etwa »das Leid der Opfer, die die Massaker der Wehrmacht und Waffen-SS überlebten … über Jahrzehnte vergessen worden.« Italiener hätten pauschal als »Verräter« gegolten, nachdem die Badoglio-Regierung im September 1943 nach dem Sturz Mussolinis auf die Seite der Alliierten trat. Auf italienischer Seite werde hingegen die eigene Rolle als langjähriger Verbündeter Nazideutschlands und die Beteiligung der italienischen Faschisten an Massakern und Deportationen kleingeschrieben. Stattdessen überhöhe man die Erinnerung an die Resistenza. Diese hatte zwar großen Zuspruch aus der Zivilbevölkerung, habe aber schon damals bisweilen in starker Kritik gestanden, weil man ihr vorwarf, deutsche Repressionen zu provozieren.
Der Hinweis darauf, dass es neben der kriegerischen Gewalt auch eine »freundliche« Seite der deutschen Besatzungszeit gegeben habe, zeigt die Chancen, aber auch Problematiken der »Erfahrungsgeschichte«. Die Frage nach dem Verhältnis individueller Erfahrungen und der Etablierung von Mythen und Legenden in beiden Nachkriegsgesellschaften kann zweifellos ertragreich sein. Aber der Historikerbericht kommt stellenweise mit einem Duktus daher, als präsentiere er komplett neue Erkenntnisse, die es nahelegten, die Geschichte umzuschreiben. Das kann, und hier wird es eben wieder politisch, auch gegen den Willen der Historiker dazu genutzt werden, die deutschen Verbrechen (und die ihrer italienischen Verbündeten) zu relativieren. Ohnehin wird unter dem Label »gemeinsame Erinnerungskultur« viel Schindluder getrieben. Warum sollten NS-Opfer sich auf Gemeinsamkeiten mit jenen einigen, die ihnen keine Entschädigung gewähren?
Die Empfehlung der Kommission, im ehemaligen Lager der italienischen Militärinternierten in Berlin-Niederschöneweide eine Erinnerungsstätte zu errichten, hat sich die Bundesregierung schon zu eigen gemacht. Gegenwärtig laufen Gespräche mit der Stiftung Topographie des Terrors, auch italienische Opferverbände sind beteiligt. Historiker dürfen sich zudem auf staatlich geförderte Forschungsprojekte freuen, um die aufgestöberten Dokumente aufzuarbeiten. Die Interpretation der Funde darf aber nicht nur ihnen überlassen bleiben. Erinnerung und Aufarbeitung bleiben eine wichtige Aufgabe engagierter Antifaschisten.