Thierse blockier‘ se!

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Ziviler Ungehorsam gegen Naziaufmärsche wird populär

Juli-Aug. 2010

Neu ist die Idee nicht, sich den Nazis buchstäblich in den Weg zu setzen. Seit Jahren propagieren und praktizieren antifaschistische Gruppen diese Aktionsform gewaltlosen Widerstands. Gelegentlich kam es auch früher schon vor, dass sich Lokalpolitiker – wie der CSU(!)-Bürgermeister von Wunsiedel – mit auf die Straße setzten. Doch so gut wie immer wurden die Blockaden von der Polizei geräumt und den Nazis der Weg »freigemacht«. Anzeigen gegen die Blockierer, Gerichtsverhandlungen und Strafbefehle folgten Die Berliner VVN-BdA setzte sich in den letzten Jahren mit der Losung »Naziaufmärsche blockieren ist unser Recht!« gegen solcherart Kriminalisierung zur Wehr.

Vor fünf Jahren, am 60. Jahrestag der Befreiung, kam es in Berlin zum ersten spektakulären Beispiel einer geglückten Massenblockade gegen einen Naziaufmarsch. Damals wurde man allerdings das Gefühl nicht los, dass die antifaschistische Gegenaktion von Politik und Polizei dankbar aufgegriffen wurde, um der Welt nicht die fatalen Bilder grölender Nazis, die ausgerechnet am 8. Mai durch Berlin marschierten, liefern zu müssen. Doch schon damals fiel auch auf, dass sich sehr viele Menschen an den Aktionen beteiligten, die man bis dahin kaum auf der Straße getroffen hatte, wenn es darum ging, Widerstand gegen Neonazis zu leisten.

Jetzt hat sich diese Veränderung manifestiert. Am 1. Mai beteiligten sich mehr als 10 000 Berlinerinnen und Berliner an den Blockaden gegen den Naziaufmarsch zum »Tag der Arbeit«, unter ihnen Politiker mehrerer Parteien. Und wer das Titelbild der letzten antifa-Ausgabe vor Augen hat, weiß, dass im Prenzlauer Berg vor allem junge Leute die Straße blockierten, die sich eher nicht dem klassischen »antifa-Spektrum« zurechnen würden. Hätte Bundestagsvize Wolfgang Thierse übrigens an jener Stelle gesessen, an der das Titelbild entstand, wäre ihm die (in seinem Wahlkreis sicher nicht unliebsame) Polizeiaktion erspart geblieben, die noch Tage später die Medien beschäftigte. Dort hielten nämlich so viele Blockierer die Kreuzung besetzt, dass die Polizei machtlos war. Doch ermutigt von originellen Sprechchören, denen dieser Beitrag seinen Titel verdankt, bewies der SPD-Politiker an einem weniger gut besuchten Blockadepunkt Zivilcourage und demonstrierte beispielhaft, dass ziviler Ungehorsam gegen Nazis möglich und nötig ist. Respekt!

Woher aber diese Veränderung im Kräfteverhältnis? Die Antwort ist eindeutig: Dresden hat’s gebracht. Die Erfahrung, dass am 13. Februar 15.000 Gegendemonstranten Stunde um Stunde bei eisiger Kälte ausharrten, die Aufforderungen der Polizei, den Platz zu räumen, freundlich ignorierten und am Ende den größten Neonaziaufmarsch Europas verhinderten, hat der Blockadebewegung einen wirklichen Aufschwung verliehen. Zum ersten Mal wurde sichtbar: Wo tatsächlich Massen agieren, muss auch die Polizei ihre Taktik anpassen, kann den Nazis jede Chance genommen werden. Eine höchst motivierende Erfahrung, offensichtlich auch für Kreise, die bisher nicht zum aktiven Kern der antifaschistischen Bewegung gehörten. Denn 10 000 oder gar 15 000 Demonstranten kommen nur zusammen, wenn sich »ganz normale Leute« beteiligen. Insofern ist die neue »Popularität« antifaschistischer Aktionen für jeden, dem die antifaschistische Sache am Herzen liegt, eine Genugtuung.

Dass Blockaden nicht nur in Großstädten wie Dresden oder Berlin gelingen können, zeigt das Beispiel des Bündnisses »Brandenburg nazifrei«. Das Bundesland Brandenburg ist seit Jahren ein Tummelplatz diverser Nazi-Strukturen, wie der Kameradschaft Märkisch Oder Barnim, die allein in der Zeit von Ende Mai bis Mitte Juli in fünf nördlich von Berlin gelegenen Kleinstädten Aufmärsche angemeldet hat. »Brandenburg nazifrei«, will sie – dem Beispiel von Dresden folgend – verhindern. In Bernau ist Ende Mai das Konzept des Bündnisses, das sich aus unterschiedlichen antifaschistischen Gruppierungen zusammensetzt, aufgegangen. Etwa 500 Menschen, quer durch alle Altersgruppen und Bevölkerungsschichten, sorgten dafür, dass die Nazis keinen Meter weit kamen. Dagegen hat die Polizei am 19. Juni die zunächst erfolgreiche Blockade in Strausberg am Ende doch aufgelöst. Ein verändertes gesellschaftliches Klima führt eben nicht in jedem Fall automatisch zum Erfolg. Doch die Tendenz macht Mut.