Große Fragezeichen
13. November 2014
Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss und seine Ergebnisse
Zweieinhalb Jahre. Mehr als 10.000 Aktenordner. Über 50 Zeugen- und Sachverständigenanhörungen. Der Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss »Rechtsterrorismus und Behördenhandeln« versuchte in der letzten Legislatur Aufklärung rund um den NSU-Komplex zu betreiben. Es gelang nur teilweise. Schweigende Zeugen, Schwarmdemenz bei Mitarbeitern des Verfassungsschutzes, aber auch aktive Versuche der Behinderung der Arbeit, bspw. durch fehlende Akten u.a. aus dem Bundesamt für Verfassungsschutz, erschwerten die Arbeit. Trotzdem ist dem Thüringer Untersuchungsausschuss viel gelungen. Die 90er Jahre detailliert aufzuarbeiten, Fehlverhalten von Verantwortungsträgern in Sicherheitsbehörden, Politik aber auch Gesellschaft darzustellen. Besonders wichtig aber sind die im Abschlussbericht formulierten offenen Fragen und offenen Komplexe, welche in einem neu einzusetzenden NSU-Untersuchungsausschuss weiter zu bearbeiten und aufzuklären sind.
Keine Antworten können wir nach der zweieinhalbjährigen Arbeit im Untersuchungsausschuss »Rechtsterrorismus und Behördenhandeln« u.a. auf die folgenden Fragen geben:
• Wie groß das von uns unterstellte und in Teilen herausgearbeitete Netzwerk ist, welches das NSU-Kerntrio in unterschiedlichen Formen unterstützte.
Die insbesondere für die Angehörigen der Ermordeten quälende Frage, wie die individuellen Opfer der NSU-Mordserie ausgewählt wurden. Auch wenn das von uns vermutete Unterstützer-Netzwerk einen Ansatz bieten kann, erklärt es noch nicht, wie und warum die »Auswahl« der Ermordeten seitens des NSU stattfand. So bleiben die Angehörigen mit der Ungewissheit alleine, warum ausgerechnet ihr Ehemann, ihr Vater, ihr Bruder oder Onkel ermordet wurde.
• Offen ist für uns das Motiv, welches zur Ermordung der Thüringer Polizistin Michèle Kiesewetter und zum versuchten Mord an ihrem Kollegen führte.
• Mit großen Fragezeichen versehen ist für uns der Ablauf des 04.11.2011 in Eisenach und insbesondere die durch die Ermittlerinnen vor Ort getroffenen Entscheidungen, bspw. zur Verbringung des Wohnmobils mit den Leichen des Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos vor der Tatortsicherung.
• Aufgrund der unter dem Deckmantel der Geheimhaltungspflicht praktizierten Verweigerungshaltung des Bundesministerium des Inneren und des Bundesamtes für Verfassungsschutz zur Her-ausgabe noch vorhandener bzw. nach der Vernichtung am 04.11.2011 wieder rekonstruierter Aktenteile zu V-Leuten, ist es nicht gelungen aufzuklären, inwieweit der Vernichtung ein Vertuschungsmotiv zugrunde lag. Wir gehen davon aus, dass Bezüge zum NSU-Komplex in den geschredderten Akten ersichtlich waren und möglicherweise aus rekonstruierten Teilen ersichtlich sind.
• Im Ausschuss wurde versucht, die Verbindungen zwischen Thüringer Neonazis und Baden-Württemberger Neonazis zu thematisieren. Aus den Akten ist ersichtlich, dass ein jetzt in Baden-Württemberg lebender Neonazi in den 90er Jahren eng an den THS angebunden war. Durch Recherche-Erkenntnisse antifaschistischer Gruppen und investigativer Journalistinnen und Journalisten ergeben sich Verknüpfungspunkte, welche im Zusammenhang mit dem Mord an Michèle Kiesewetter stehen könnten.
• Die Verbindungen zwischen Neonazis und dem Bereich der »Organisierten Kriminalität« sind in Thüringen ersichtlich geworden. Dringend müssen Akten aus dem OK-Bereich einem künftigen Ausschuss zur Verfügung gestellt werden.
Im August 2014 legten wir den Abschlussbericht des Thüringer Untersuchungsausschusses vor. Fast 2000 Seiten. Unzählige Details, Verbindungen, Namen und Strukturen. Vor allem aber offene Fragen. Ob wir jemals die Antworten finden werden, ist fraglich. Wir müssen es versuchen. Wir sind es den Betroffenen der Sprengstoffanschläge und den Opferangehörigen schuldig. Trotz – auch eigener – alltäglicher Erfahrungen von Drohungen, körperlichen Angriffen bis hin zu Brandsätzen gegen engagierte Menschen, haben auch wir uns nicht in letzter Konsequenz vorstellen können, dass Neonazis die Terrorkonzepte des »führerlosen Widerstands« und des »Rassenkriegs« über Jahre hinweg in Deutschland umsetzen konnten, ohne von Strafverfolgern gestoppt zu werden.
Analog der Aufforderung an Polizei und Staatsanwaltschaften bei Gewaltkriminalität, einen rassistischen, antisemitischen oder neonazistischen Hintergrund zu prüfen, sollten auch wir entsprechende Übergriffe nicht allein der Bewertung von Behörden überlassen, sondern Kontakt zu den Betroffenen suchen und kritisches Hinterfragen zum Maßstab des Handelns machen.