»Niedergeführte Existenzen«
4. Juli 2015
Das Mordprogramm »Euthanasie« im Blick
Rechnen hatten wir in der Volksschule bei Fräulein Fuchs. Mathematik gab es da noch nicht und unsere Lehrerinnen hießen alle »Fräulein«. Bei ihr haben wir gelernt, dass es allemal besser sei, die Gelder, die für geistig oder körperlich unheilbare Volksgenossen ausgegeben werden müssen, als Ehestandsdarlehen für gesunde Eltern und damit also auch für erbgesunden Nachwuchs aufzuwenden. Damit wurden wir hingeführt zu der »logischen Akzeptanz der uns damals noch unbekannten Praxis, den Nachwuchs von »Ballastexistenzen« zu verhindern und uns des vorhandenen »lebensunwerten Leben« zu entledigen.
Auf dem Territorium des heutigen Landes Niedersachsen gab es in den Jahren der faschistischen Herrschaft keine solche Vernichtungsanstalt zur Ermordung »lebensunwerten Lebens«, wie etwa in Pirna-Sonnenstein, Hadamar oder Brandenburg-Görden. In diesen Einrichtungen wurden jeweils um die 10.000 Menschen systematisch umgebracht. Im Mörderjargon wurde von der »Niederführung« dieser geistig oder körperlich Behinderten, vorwiegend Kindern, gesprochen. »Euthanasie« hieß der staatlich organisierte Massenmord, also »Gnadentod« Dem Thema ist in den letzten Jahren sowohl durch wissenschaftliche Tagungen und Publikationen als auch durch Gedenkstätten verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt worden.
Im Band drei der Schriftenreihe der Stiftung Niedersächsische Gedenkstätten »Forschungen zur Medizin im Nationalsozialismus. Vorgeschichte –Verbrechen –Nachwirkungen« stehen die Heil- und Pflegeanstalten in Wehen und Lüneburg im Mittelpunkt, in denen, auch in eigens dafür eingerichteten Kinderabteilungen, durch Hungermorde« und »abspritzen« das grausige Programm zur »Gesund-erhaltung des deutschen Volkskörpers exekutiert wurde. In Lüneburg fielen mehr als 350 Kinder diesen Morden zum Opfer. Gehirnpräparate von 12 Kindern wurden zwischen 2011 und 2012 in einem Hamburger Forschungsinstitut entdeckt.
Nach einer Predigt des Bischofs von Galen am 3. August 1941 in Münster erfolgte zwar aus taktischen Gründen eine offizielle Einstellung der Aktion »T 4«. (In der Berliner Tiergartenstraße 4 war der Sitz des mit dem Mordprogramm beauftragten Reichsausschusses zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«.) Tatsächlich aber folgte in den Jahren 1942-1945 »eine zweite Vernichtungswelle«, »die sich verdeckter Tötungsmethoden bediente und immer neue Opfergruppen erfasste«. Unter dem Aktenzeichen »14f13« habe die SS bereits seit dem Frühjahr 1941 »systematische Selektionen von KZ-Insassen« praktiziert. Mancherorts seien die »Patiententötungen« bis nach Kriegsende weitergegangen, schreibt Gerrit Hohendorf
Der vorliegende Band fußt auf einer 2012 durchgeführten Konferenz der Stiftung und fasst Forschungsergebnisse nicht nur diese Bundeslandes zusammen. Dargelegt werden die schmähliche gerichtliche »Aufarbeitung« diese Kapitels, die unbeanstandete Weiterbeschäftigung der involvierten Mediziner, denen »Verbotsirrtum«, »befreiender Irrtum« oder »nicht schuldhaftes« Verhalten attestiert wurde. In einem der seltenen, schließlich mit Einstellung endenden Prozesse hieß es gar: »Den Angeklagten konnte nicht mit hinreichender Sicherheit widerlegt werden, dass sie die Geisteskranken, an deren Tötung sie mitgewirkt haben, für Menschen ‚ohne natürlichen Lebenswillen’, für ‚niedergeführte Existenzen’, für ‚leergebrannte Menschenhülsen’ gehalten haben.« Nachgezeichnet werden der mühevolle Weg zur Anerkennung und Entschädigung der Opfer der Zwangssterilisation und der »Euthanasie«. Der Band schließt ab mit Überlegungen zur aktuellen Debatte um gesetzliche Regelungen zur »Sterbehilfe« über die der Bundestag im September in erster Lesung beraten soll. Ein Thema, das vor dem Hintergrund des in dieser beachtenswerten Publikation dargestellten faschistischen Mordfeldzugs gegen »lebensunwerten Lebens« äußerste Sensibilität erfordert.