Quellenschutz mit Folgen
30. August 2015
V-Leute des Staates als Brandbeschleuniger der Naziszene
Hajo Funke, emeritierter Politikprofessor aus Berlin gilt als einer der besten Kenner der Neonaziszene in Deutschland. Er trat als Gutachter vor mehreren NSU-Untersuchungsausschüssen auf und begleitete sie als Beobachter. Jetzt hat er mit dem Buch »Staatsaffäre NSU« eine Sammlung von Texten vorgelegt, die er zum Thema NSU im Internet veröffentlicht hat. Sein Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie weit die Sicherheitsbehörden Deutschlands ein Teil der Strukturen des NSU waren oder immer noch sind.
Die Geheimdienste des Landes waren mit mindestens 20 V-Leuten im unmittelbaren Umfeld des NSU Trios aktiv. Sie informierten die Ämter, sowohl vor dem Abtauchen als auch danach, über die Aktivitäten der militanten Neonaziszene. Hajo Funke fasst die Strategie der Geheimdienste nach 1990 folgendermaßen zusammen: »Ihr Handlungsmuster sah überspitzt, aber sinngemäß wie folgt aus: Wir überbieten ideologisch und in den Aktionen die jeweilige Gruppe oder Szene und setzen strategisch V-Leute, Doppelagenten oder Agents Provocateurs an die Spitze der jeweiligen Bewegungsformation. So erreichen wir eine informelle Kontrolle und einen Einfluss, den wir zur Zersetzung, zur Vorbereitung von Verboten und – notwendigerweise – zur Radikalisierung nutzen. Wir vertreten einen absoluten `Quellenschutz´, so dass die Akteure, die wir beschatten, sich in ihren Aktionen frei fühlen und handeln können.« (S.138)
Hajo Funke geht in seinen Analysen nicht davon aus, dass die Geheimdienste aus politischer Nähe mit Neonazis zusammengearbeitet haben und es wohl noch immer tun. Sie haben sich vielmehr aus taktischem Kalkül so verhalten. Weil Neonazis fast jeden Tag schwere Straftaten bis hin zu Anschlägen und Morden begehen, sind die Ämter zwar informiert, wollen ihre Quellen aber schützen um nicht vom Informationsfluss abgeschnitten zu sein. Je mehr Verbrechen von Nazis begangen werden, desto dringender ist es für die Dienste, ihre Informanten zu schützen. Damit werden die Ämter zumindest zu Mitwissenden von Straftaten und ihre V-Leute zu »Brandbeschleunigern«. Diesen Begriff benutzte das Bundeskriminalamt 1997 in einer Stellungnahme zu der Spitzelpraxis der Geheimdienste. Hajo Funke schreibt dazu: »Das BKA wies besonders auf die Gefahr hin, dass die Leugnung der Zusammenarbeit von `Quellen´ mit dem Verfassungsschutz zur Schwächung des Geheimdienstes und der Polizei führte. Bei den V-Leuten entsteht der Eindruck, im Sinne ihrer Ideologie ungestraft unter dem Schutz des Verfassungsschutzes handeln zu können und die Exekutive nicht ernst nehmen zu müssen. Das BKA forderte, das in Fällen, in denen die `Quelle´ aus dem Ruder läuft, der VS die Strafverfolgung vor den Schutz der `Quelle´ stellen sollte. » (S, 248)
Außerdem belegt Hajo Funke, dass das Bundeskriminalamt bereits 2002 von der Existenz des NSU wusste. In der Anhörung vor dem Bundestagsuntersuchungsausschuss sagte ein führender Beamter des BKA, der für Neonazis zuständig ist, dass sie von Thomas Richter, Deckname Corelli, auf einen Gruß an den NSU in der Zeitschrift »Der weiße Wolf« aufmerksam gemacht worden waren. In der Zeitschrift stand: »Danke an den NSU. Die Spende hat geholfen. Der Kampf geht weiter.« 2003 informierte ein Informant das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg über eine Gruppe mit dem Namen NSU und nannte Namen von Beteiligten. Darunter auch den Namen Uwe Mundlos. Der Beamte, der die Informationen an das Amt weitergab, musste die entsprechenden Teile seines Berichts löschen. Immer wieder hat das Bundesamt das Bundeskriminalamt bei Ermittlungen behindert und getäuscht. Das ist keine bloße Schlamperei mehr.
Ein besseres Plädoyer für die Abschaffung der Geheimdienste in Deutschland gibt es im Moment nicht in Deutschland, auch wenn Hajo Funke in seinen Texten für eine Reform plädiert. »Wenn der Bundestag auch nur den Ansatz einer Wahrnehmung der Ursachen des Scheiterns der Sicherheitsbehörden hat und Konsequenzen aus dem Scheitern der Sicherheitsbehörden ziehen und eine Reform, die diesen Namen verdient, will, wäre das Mindeste eine Kontrolle einer außer Kontrolle und in der Mordserie gescheiterten Institution.« (S.368) Dieser Satz verdeutlicht nicht nur die Position von Hajo Funke, sondern auch eine der Schwächen der Texte. Sie sind mit heißer Feder geschrieben für die schnelle Veröffentlichung im Internet. Manchmal wäre es für die Buchausgabe gut gewesen, wenn sie noch einmal überarbeitet worden wären. Das gilt auch für die Struktur des Buches. Es ist nicht leserfreundlich, die aktuellsten Texte nach vorn zu stellen. Da die Texte unabhängig voneinander entstanden sind, ist es möglich, sie in einer anderen Reihenfolge zu lesen. Ich empfehle, zuerst den Teil II zu lesen und dann vorn mit Teil I weiterzumachen. Auslassen sollte man auf keinen Fall die zahlreichen Fußnoten. In ihnen erläutert und ergänzt Hajo Funke die Texte.
Ein wichtiges Buch für alle, die sich mit dem Komplex des NSU auseinandersetzen und seine Hintergründe verstehen wollen.