Aus antifaschistischer Sicht
8. November 2015
Europaweit steigen rassistische Hetze und Gewalt an
antifa: Im Sommer schienen die in Europa ankommenden Flüchtlinge nur ein Problem von Griechenland und Italien zu sein, heute sind fast alle Staaten betroffen. Was hat das für Konsequenzen?
Ulrich Schneider: In der Tat betrifft das Problem mittlerweile alle Balkanstaaten, Griechenland, Italien, Österreich und viele andere europäische Länder. Die medialen Bilder von den Flüchtlingen auf dem Mittelmeer sind durch die Bilder von Tausenden auf den Straßen nach Norden abgelöst worden. Doch selbst jetzt haben die Regierungschefs der europäischen Staaten – wie wir in unserer Erklärung bereits kritisiert hatten – keine andere Antwort als »Grenzen schließen« und »Flüchtlingsströme stoppen«. Doch Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend lassen sich durch Grenzen und Kontrollen oder Strafen nicht aufhalten. In unseren Augen erbärmlich ist die Reaktion zahlreicher osteuropäischer Mitgliedsstaaten der EU, die sich weigern, einen aktiven Beitrag zur Hilfe für die Flüchtlinge zu leisten. So nehmen beispielsweise die baltischen Staaten die wirtschaftlichen Möglichkeiten der EU gerne in Anspruch, die gesellschaftliche Verantwortung für die Flüchtlingskrise will man aber nicht mittragen. Das katholische Polen will gar – wenn überhaupt – nur »christliche« Flüchtlinge aus Syrien in seinem Land aufnehmen. Das erinnert doch sehr an die Parolen der »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« (Pegida), wobei die überhaupt keine Flüchtlinge aufnehmen würden.
antifa: Wie reagieren die Zivilgesellschaften auf diese Entwicklung?
Ulrich Schneider: Wie wir in unserer Erklärung schrieben, erleben wir eine Zunahme von rassistischen Übergriffen und Gewalttaten, bis zu Brandstiftungen gegen Flüchtlingseinrichtungen. Andererseits können wir aber auch positiv festhalten, dass es viele Menschen gibt, die sich spontan und engagiert für Flüchtlinge einsetzten. So gab es in Budapest keine rassistischen Ausschreitungen, obwohl die Regierung mit ihrer Politik und Medienarbeit alles dafür tat, die Stimmung gegen die Flüchtlinge zu verschärfen. In Österreich und in Deutschland haben wir gesellschaftliche Einrichtungen wie Kirchen oder private Initiativen, die sich mit Kleidern, Geld oder zeitlichem Engagement für die Flüchtlinge einsetzen. Problematisch ist es insbesondere in den Ländern, in denen die Regierungen öffentlich erklären, keine oder nur bestimmte Flüchtlinge aufnehmen zu wollen, wie zum Beispiel in Polen. Das nehmen Gruppen der extremen Rechten zum Anlass, in gewalttätigen Aufmärschen und anderen demonstrativen Aktionen ihre Fremdenfeindlichkeit zu dokumentieren. Auch die Danske Volkepartei, eine rassistische und islamophobe Partei, die als drittstärkste Kraft im dänischen Reichstag vertreten ist, versucht mit Propaganda und Aktionen die Aufnahme von Flüchtlingen in Dänemark zu verhindern. Und in der Schweiz haben die Wahlen zum Nationalrat im Oktober 2015 gezeigt, dass die rassistische Propaganda der SVP, die das Gespenst der »Überfremdung« an die Wand malte, zu einer Fokussierung der bürgerlichen Stimmen auf diese Partei führte, ähnlich wie bei der Landtagswahl in Wien, wo die rassistische FPÖ als zweitstärkste Kraft die Österreichische »Volks«-Partei auf unter 10% der Stimmen marginalisierte.
antifa: Was kann man in dieser Situation tun?
Ulrich Schneider: Ich denke, das hängt immer von der Stärke der demokratischen Kräfte der jeweiligen Länder ab. Konkrete Solidarität mit Flüchtlingen kann jeder leisten Und wir erleben – insbesondere auch in Deutschland – viele gute und beeindruckende Beispiele der alltäglichen Hilfe. Rassistischer Propaganda und Aufmärschen der extremen Rechten entgegenzutreten, das ist ebenfalls in fast allen Ländern möglich. Wir alle erinnern uns an die menschenunwürdigen Bilder vom Bahnhof in Budapest, als eine große Gruppe der Flüchtlinge versuchte, auf legalem Wege nach Österreich bzw. in die BRD zu kommen. Unser ungarischer Verband, MEAZ, setzte in den Tagen mit seinen bescheidenen Mitteln ein Zeichen von Menschlichkeit gegen das Verhalten der Polizei und der Sicherheitsorgane. Dies wurde von den Betroffenen durchaus wahrgenommen. Wir müssen aber auch die Politiker auf allen Ebenen an ihre Verantwortung für die Menschen erinnern. Anfang November tagt der Exekutivausschuss der FIR in Brüssel und wir werden dabei auch mit Abgeordneten des Europäischen Parlaments zusammentreffen. Ihnen gegenüber werden wir noch einmal deutlich unsere Forderungen an die Europäische Union vortragen, nämlich Fluchtursachen durch eine andere Außenpolitik zu beseitigen, nicht die »Festung Europa« auszubauen, sondern Flüchtlinge ohne Einschränkungen aufzunehmen und alle Staaten der EU gleichermaßen an der Unterbringungen und sozialen Betreuung der Menschen zu beteiligen, aktiv einzutreten gegen zunehmenden Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, für Offenheit und Toleranz. Natürlich wird solch ein Gespräch nur eine begrenzte Wirkung haben können. Aber wir bleiben dabei, dass Europa ein Europa für die Menschen sein muss.