Schiffbruch einer Politik
3. November 2015
Ursachen und Folgen des Umgangs mit Flüchtlingen in Europa
Tag für Tag sehen wir die Bilder von verzweifelten Flüchtlingen im Fernsehen. Viele Menschen fühlen sich durch ihr Kommen überfordert und haben Angst vor der Zukunft. Laut aktuellen Umfragen rechnen zwei Drittel der Befragten wegen der Flüchtlinge in Deutschland mit sozialen Unruhen, also mit rassistischen Demonstrationen und Ausschreitungen. Die sogenannten besorgten Bürger, denen ihr Bauch sagt, dass Deutschland deutsch bleiben soll, haben massiven Zulauf.
In dieser Situation ist ein Buch erschienen, das uns hilft einen kühlen Kopf zu behalten. »Schiffbruch – Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik« ist von dem Autorentrio Wolfgang Grenz, Julian Lehmann und Stefan Keßler geschrieben worden. Die drei gehören zu den kompetentesten Autoren, die es in Deutschland zu diesem Thema gibt. Wolfgang Grenz hat von 1979 bis 2013 hauptberuflich für Amnesty International gearbeitet. In den letzten Jahren sogar als Generalsekretär. Außerdem war er einer der Mitgründer von Pro Asyl. Stefan Keller arbeitet beim Jesuiten Flüchtlingsdienst in Brüssel. Der Dienst wurde 1980 angesichts des Elends der vietnamesischen Boatpeople gegründet. Mittlerweile betreuen 1600 Mitglieder des Flüchtlingsdienstes weltweit Flüchtlinge. In Deutschland kümmern sie sich hauptsächlich um Menschen ohne Papiere und betreuen Menschen in der Abschiebehaft. Julian Lehmann ist Mitarbeiter beim Global Public Policy Institute (GPPI) in Berlin. Das Institut berät Regierungen, die UNO, und das Europäische Parlament in Menschenrechts- und Flüchtlingsfragen. Davor hat Julian Lehmann beim Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen gearbeitet.
Das Buch beginnt mit dem Untergang eines Schiffes, das vollgeladen ist mit Flüchtlingen. Mehr als 520 Menschen ertrinken bei dieser Tragödie. Die Bilder der aufgereihten Leichensäcke lösen auf der ganzen Welt Empörung aus. Die italienische Insel Lampedusa wird für kurze Zeit zum Sinnbild für die unmenschliche Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Die Autoren betonen aber, dass nicht nur vor Lampedusa Flüchtlinge ertrinken. Die Autoren zitieren die niederländische Organisation UNITED nach deren Angaben zwischen Mitte 1995 und Mitte 2014 über 10 000 Menschen vor Europa ertrunken sind. Allerdings sind die Zahlen der Flüchtlinge, die insgesamt auf dem Weg nach Europa sterben, mindestens doppelt so hoch.
Die Autoren bleiben aber nicht bei der Beschreibung der katastrophalen Zustände auf den Fluchtrouten stehen. Sie schreiben am Ende des ersten Kapitels: »Mit diesem Buch wollen wir nicht nur danach fragen, welche Verantwortung Deutschland und Europa für Flüchtlinge tragen. Wir wollen auch zurückgehen zu den Ursprüngen.«
Zu dieser Geschichte gehört die weitgehende Abschaffung des Asylrechts Anfang der 1990er Jahre. Aus dieser Zeit stammt auch die Überlegung, Flüchtlinge abzuweisen, wenn sie aus »sicheren Drittstaaten« kommen. 1993 wurde diese Formulierung sogar ins Grundgesetz aufgenommen. Bereits ein Jahr davor wurde mit der »Londoner Resolution« ein Abkommen beschlossen, dass das Asylrecht weiter einschränkte. Die Autoren beschreiben es so: »Sollte ein Flüchtling auch in einem anderen Staat sicher vor einer Abschiebung in sein Heimatland sein, würde dessen Asylantrag in der Sache nicht mehr geprüft werden.« Unklar ist bis heute allerdings, wie ein »sicherer Drittstaat« definiert wird. Für die Bundesrepublik gehören die Balkanstaaten dazu. Nach der EU-Definition, die nicht nur die staatliche Verfolgung anerkennt, sondern auch gruppenspezifische Verfolgung, gelten dieselben Staaten für die Volksgruppe der Roma als nicht sicher. Mit den Dublin Abkommen ist dann geregelt worden, dass Flüchtlinge in dem EU Land, das sie als erstes betreten, Asyl beantragen und dann auch bleiben müssen. Deutschland war maßgeblich am Entstehen dieser Abkommen beteiligt. In der Folge schafften es kaum noch Flüchtlinge bis nach Deutschland.
Die Autoren schreiben dazu: »Europa als Ganzes und Deutschland als einzelner Mitgliedstaat hat in den letzten Jahren fast immer dabei zugeschaut, wenn Menschen an seinen Grenzen ums Leben kamen. Ob Menschen nun vor Krieg oder Verfolgung fliehen oder ob sie ,nur‛ der Armut entkommen wollen, ob wir sie Flüchtlinge nennen oder Arbeitsmigranten: Welchen Unterschied macht es wenn es um die Rettung von Menschenleben geht?« Diese humanistische Einstellung durchzieht das ganze Buch.
Im letzten Kapitel gehen die Autoren der Frage nach, wie eine bessere Flüchtlingspolitik aussehen kann. Neben anderen Punkten betonen sie, dass es ganz wichtig sei, die Flüchtlingspolitik der UNO zu unterstützen. Sie nennen Syrien als Beispiel. Vor dem Krieg war die Schulausbildung dort vorbildlich. Inzwischen leben im Libanon mehr syrische Kinder als libanesische. Von ihnen kann aber nur ein Viertel eine Schule besuchen. Wenn wir nicht die nächsten Probleme heranzüchten wollen, muss die Welt handeln.
Auch wenn es die tagesaktuellen Ereignisse nicht berücksichtigen kann, ist das Buch sehr wichtig. Wir müssen als Antifaschisten gegen den alltäglichen Rassismus aufstehen und dagegenhalten. Das Buch hilft uns dabei, Argumente zu finden und klar zu bleiben. Janka Kluge