Unser letzter Sommer
2. Mai 2016
Eine Geschichte aus dem besetzten Polen
»Unser letzter Sommer«, eine deutsch-polnische Produktion des polnischen Regisseurs Michał Rogalski, ist ein ruhiger, sogar leiser Spielfilm über den Sommer des Jahres 1943 im besetzten Polen. Einige historische Fehler unterlaufen ihm. Zum Beispiel machten alliierte Bomberverbände ganz sicher keinen Umweg über Polen, um nach Berlin zu fliegen.
Trotzdem hat Rogalski einen außerordentlich realistischen, analytischen und offenen Film über den Massenmord an den polnischen Juden gedreht und das mit bewundernswerter künstlerischer Unabhängigkeit gegenüber dem Geschehen auf dem Filmmarkt.
Dampfloks und Güterwaggons sind die gar nicht heimlichen Stars des Films und verweisen doch gleichzeitig auf den nazistischen Völkermord an den Juden Polens. Die Rangierloks fahren nämlich bis zum Tor »333«, der Strecke zur »Desinfektionsrampe«, d.h. zum Vernichtungslager Treblinka.
In dieser Landschaft treffen sich die Lebenswege von fünf Heranwachsenden: der Polen Romek und Franka, der polnischen Jüdin Bunia und ihres Bruders und des Deutschen Guido. Während sich für das Bauernmädchen Franka nicht viel geändert hat durch den Krieg, muss Romek als Heizer auf der Lok des Freundes seiner Mutter arbeiten. Da gibt es auch öfter Knuffe, aber was soll man machen, wenn es sonst keine Arbeit gibt? Außerdem können die beiden nebenbei interessante Geschäfte machen. Entlang der Schienen finden sich immer wieder wie Strandgut Kleider und auch ganze Koffer voller Sachen. Einen davon bringt Romek nach Hause. Die Mutter nimmt ihn an sich wie ein Weihnachtspaket. Beklommen sieht man, wie sie mit geübten Griffen nach versteckten Wertsachen sucht und dabei achtlos das Grammophon mit den Jazzplatten beiseite schiebt. Diese Musik ist es, die die beiden polnischen Jugendlichen mit Guido verbinden wird, der als Wehrpflichtiger zur deutschen Sicherheitspolizei eingezogen worden ist, von der ein Zug im Dorf stationiert ist.
Das Handeln der Personen wird ganz wesentlich durch Hierarchien bestimmt, wobei die traditionellen »Alt vs. Jung«, »Mann vs. Frau«, »wohlhabend vs. arm« durch die neuen »Deutscher vs. Pole«, »bewaffnet vs. unbewaffnet« und vor allem »Arier oder Jude« überlagert und ersetzt werden. Auch die deutsche Sprache wird in dieser Lage zu einem grausamen Instrument der Herrschaft. Noch der unbedeutendste Deutsche erhält durch sie eine dramatische Überlegenheit.
Die Zugehörigkeit zu der »besseren« Gruppe entscheidet über den Zugang zu Ressourcen, die Möglichkeiten zum Tauschen, Sammeln und Rauben und letztlich über die eigene Sicherheit.
Die allerschlechtesten Karten hat deshalb Bunia, schließlich ist sie jung, weiblich, mittellos und vor allem jüdisch. Halbverhungert ist sie zusammen mit dem Bruder dem Todestransport vom Warschauer Ghetto nach Treblinka entkommen und ergreift, sich wie eine Katze bewegend, die wenigen Chancen, die es gibt. Vor der polnischen Bevölkerung kann sie sich nicht sicher fühlen. Die Wahrscheinlichkeit auf jemanden zu treffen, der heilfroh darüber ist, dass die Deutschen mit den Juden aufräumen, ist groß. Dass sie sich an Romek hängt, den sie im Wald trifft, ist deshalb ein rein instrumentelles Verhalten. Sie weiß nicht, dass der zuvor schon – hilflos und zu Recht ängstlich – den sterbenden Bruder gefunden hatte. Eindeutig ist hingegen Bunias Verhältnis zu den Deutschen. Die muss man töten, anders geht es gar nicht. Als Bunia, Romek und Guido aufeinandertreffen und ein Handgemenge ausbricht, bringen die beiden unfertigen Jungen es nicht fertig, sich zu erschießen, was das Mädchen sicher getan hätte, könnte sie mit der Waffe umgehen.
Bunias einziges Tauschgut ist ihre Sexualität, die sie Romek aufdrängt. Aber er taugt nicht als Lösung für das Überleben. Viel besser ist für sie ein durchziehender sowjetischer Partisanentrupp, der die Ordnung des deutsch besetzten Polens durchbricht und mit dem sie schließlich mitgeht. Vorsichtig, lauernd und gewalttätig streifen die Russen durch die Wälder, vor den Deutschen genauso auf der Hut wie vor polnischen Partisanen. Als junge Frau ist sie den bewaffneten sowjetischen Männern ausgeliefert, aber nicht als Jüdin. Das ist das Wichtigste für sie. Der Zuschauer muss entscheiden, ob er den Akt, den er sieht, als Prostitution oder Vergewaltigung oder beides zugleich sehen will.
Der junge Deutsche träumt derweil weiter, obwohl er selbst zum Mordkommando gehört. Er verzieht sich gerne auf den Dachboden, hört heimlich Musik und versteht nicht, in welche Gefahr er das polnische Mädchen bringt, das er an sich zieht. Vom Vorgesetzten erwischt, bringt dieser das Erziehungsprogramm zu Ende. Guido muss Franka selbst erschießen.
Auch Romek ist am Schluss gereift. Er kann in diesem Sommer 1943 noch etwas aus sich machen. Entschlossen ergreift er die Chance, Mutters Freund von der Lok zu verdrängen. Er übernimmt selbst den Posten an den Hebeln der Dampflok und die Rangierstrecke – die nach Treblinka.