Lob des Vergessens
18. November 2016
Eine Polemik gegendie »Mythologisierung von Geschichte«
Das Vergessen hat generell keinen guten Ruf. Das fängt schon im Kleinen an (»Hast du das etwa schon wieder vergessen?«), gewinnt seine volle Wucht aber erst im Kollektiven (»Niemals dürfen wir vergessen«!). Die Streitschrift »In Praise of Forgetting« des US-Intellektuellen David Rieff richtet sich gegen diese moralische Gewissheit. Ihr Hintergrund sind Rieffs Erfahrungen aus den Balkankriegen der 90er Jahre. Damals munitionierten sich alle Kriegsparteien des zerfallenden Jugoslawiens mit Geschichten aus der Geschichte. Das ging bei den Serben bis zur Schlacht auf dem Amselfeld 1389 zurück, die man immer noch nicht verwunden haben wollte. Aus dem Zweiten Weltkrieg war für alle etwas dabei: die kroatische Kollaboration durch das Ustascha-Regime, die Wirren des Partisanenkrieges gegen die Deutschen und untereinander, die Repressalien durch die siegreichen Tito-Partisanen.
Die Identifikation konnte sich dabei sowohl auf die Opfer, als auch auf die Täterseite beziehen. Was dabei jedenfalls nicht herauskam, war die Schlussfolgerung, die man gegenwärtig in Deutschland für selbstverständlich hält, nämlich dass das Erinnern an Krieg und Mord ein Weg zu Frieden und Aussöhnung sein soll.
Rieff differenziert zwischen individueller Erinnerung und »kollektiver Erinnerung«. Letztere ist für ihn nur eine Metapher, wenn auch eine sehr wirkungsvolle. In Wirklichkeit sei diese nichts anderes als der Versuch, einem jeweiligen Ist-Zustand im Rahmen kultureller und politischer Kämpfe höhere Weihen zu verleihen.
Die wichtigsten weiteren Beispiele außer dem Balkan sind für ihn der Irland-Konflikt und der Südstaaten-Kult in den USA. Dass immer noch, oder schon wieder, die Flagge der »Konföderierten Staaten von Amerika« vor öffentlichen Gebäuden im Süden der USA hängt, hält er für einen Skandal, den er mitverantwortlich für den weiterbestehenden Rassismus mit seinen tödlichen Folgen macht.
Mit Bezug auf Nordirland und den Balkan folgert er, dass sich über Generationen, wenn nicht Jahrhunderte gezeigt habe, dass Erinnerung der »toxische Klebstoff ist, der alten Hass und gegensätzliche Martyriologien zementiert hat.« Rieff fragt: »Trotz des überwältigenden Konsenses für das Gegenteilige, zeigen nicht die historischen Fakten, dass in der Welt wie sie ist und nicht wie Philosophen sie haben möchten und vielleicht eines Tages auch sein wird, dass das … was die Gesundheit von Gesellschaften und Individuen gesichert hat, nicht die Fähigkeit zur Erinnerung, sondern die zum Vergessen ist?« Gesellschaften sollten zwar »Erinnerungen« kultivieren, aber nur dann – und das sei ein großes aber – sofern dies keinen zukünftigen Horror befördere.
Rieff lehnt die Mythologisierung von Geschichte, selbst im bestgemeinten Sinne, ab und will die Geschichtswissenschaft im Gegensatz zur Erinnerungspolitik stark machen. Vor allem wehrt er sich gegen einen »moralischen Freifahrtsschein«, den »Erinnerung« regelmäßig bekomme. Ebenso unausweichlich wie tröstlich ist ihm, dass buchstäblich alles eines Tages vergessen werde.
Rieff zeigt sich in seinem Essay als westlicher Gelehrter alten Schlages. Er schöpft aus einem schier unerschöpflichen Fundus an Lyrik, Literatur, Philosophie, der Geschichte der Geschichtswissenschaft, nicht zu vergessen religiöser Literatur. Allein das macht die Lektüre zum Genuss, verschleiert aber auch ein wenig die Probleme mit seiner Polemik. So kann er eigentlich nicht beantworten, wodurch eine gänzlich mythenlose Gesellschaft eigentlich zusammengehalten werden soll. Auch stört ein gewisser, bei älteren Intellektuellen nicht seltener Kulturkonservatismus, der außer der eigenen Geisteswelt nichts gelten lassen will. Die moderne Medienwelt versteht er nur ungenügend, hält sie per se für minderwertig und übersieht so, dass ihre Produkte so gut oder schlecht zur Entmystifizierung beitragen wie andere Medien auch.