Vor der Pogromnacht
27. November 2016
Die »Polenaktion« Ende Oktober 1938
Über Judenverfolgung in Deutschland gibt es schon zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, Forschungsprojekte, Monographien. Man kann also überrascht sein, wenn man über ein Thema erzählt und die Zuhörer scheinen die Geschichte nicht zu kennen und staunen, dass so was überhaupt passierte. Über die erste massenhafte, gewalttätig durchgeführte Deportation polnischer Juden aus dem Dritten Reich im Oktober 1938 weiß man tatsächlich nicht viel. Die erste monografische, wissenschaftliche Arbeit wurde erst 60 Jahre nach den Ereignissen, also im Jahr 1998 in Polen herausgegeben. Relativ schnell wurde das Buch (»Preludium Zagłady. Wygnanie Zydów Polskich z Niemiec w 1938r.« von Jerzy Tomaszewski) ins Deutsche übersetzt: »Auftakt zur Vernichtung. Die Vertreibung polnischer Juden aus Deutschland im Jahre 1938«, fibre Verlag, Osnabrück 2002. In der Einführung zur deutschen Ausgabe dieses Buches gibt der Autor zur Kenntnis, dass er leider keine Möglichkeit hatte, in deutschen Archiven zu arbeiten.
Wenn aber jemand versuchte, zu diesem Thema Augenzeugenberichte, Listen von Deportierten, Polizeiberichte in deutschen Archiven zu finden, würde er eine große Enttäuschung erleben. Verwirrend ist auch die Tatsache, dass sogar im Bundesarchiv dieses historische Ereignis nicht als eine Deportation betrachtet wird. Es wurde als »Abschiebung« definiert, so als hätte es sich um Kriminelle, um Verbrecher gehandelt, die eine große Gefahr für die Ordnung in der Gesellschaft darstellten. Es wurden einfach Denkweise und Wortschatz aus der Hitler-Zeit übernommen. Man kann wohl von einer Art »Gehirnwäsche« sprechen. Begriffe wie »Jude« und »polnisch« werden so bewusst kriminell assoziiert.
Betrachtet man aber den gewaltsamen Verlauf dieser Aktion, die Tatsache, dass die Betroffenen nur nach zwei Hauptkriterien verhaftet wurden (Religion und Staatsangehörigkeit), dann den massenhaften Charakter (circa 17.000 bis 20.000 absolut unschuldige Menschen wurden über die Grenze nach Polen gejagt), und die Tatsache, dass man nicht mal die rechtlichen Regeln einer Abschiebung beachtete (Widerspruchsrecht), halte ich den Begriff »Deportation« für einzig richtig, und diese Bezeichnung werde ich weiter verwenden.
Die Betroffenen, die man in Deutschland auch als »Ostjuden« bezeichnete, waren jüdische Migranten aus Ost-Mitteleuropa, überwiegend aus den ehemaligen polnischen Gebieten (im 19. Jahrhundert Russ-land und Galizien). Nach dem Ersten Weltkrieg, als Polen nach 123 Jahren wieder auf der europäischen Landkarte zu finden war, wurde der Begriff »Ostjuden« mit »polnischen Juden« gleich verwendet. Die Ursachen für die Migration waren zu der damaligen Zeit sowohl wirtschaftlicher Natur (Galizien), lagen aber auch in der antijüdischen Gesetzgebung in Russland begründet. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es sogar zu zahlreichen Juden-Pogromen in Russland. Das Ziel der Migration war aber nicht Deutschland, sondern das gelobte Land: Amerika. Die deutschen Städte, wie Berlin und Hamburg, waren nur Zwischenstationen.
Zur Zeit des Ersten Weltkriegs gab es eine neue Migrationswelle: jüdische Zwangsarbeiter, die für die deutsche Kriegsindustrie arbeiten mussten. Nicht nur Herkunft, auch Kleidung, besondere Frommheit, Treue zur jüdischen Tradition, jüdische Sitten, die Sprache (als Muttersprache galt Jiddisch) machten den Unterschied zwischen westlichen, »zivilisierten« Juden und den Zuwanderern aus dem Osten. Von den Einheimischen (Nichtjuden) wurden sie konsequent als Fremde betrachtet, wobei die gesellschaftliche Herabstufung diese Migrantengruppe auf die unterste Ebene positionierte.
Schon in den ersten Monaten der nationalsozialistischen Herrschaft wurden von Seiten der polnischen Juden zahlreiche Beschwerden über Raubüberfälle und Misshandlungen bei den polnischen Konsulaten gemeldet. Die neue Gesetzgebung hatte rechtliche Grundlagen geschaffen und machte die Judenverfolgung zur »Pflichtaufgabe« des deutschen Nationalstaates.
Die Deportation »Polenaktion« wurde durch den Befehl des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei vom 26.10.1938 eingeleitet. Alle Kräfte der Ordnungs- und Sicherheitspolizei sollten sich, unter Zurückstellung anderer Obliegenheiten, nur einer Aufgabe widmen: alle polnischen Juden (..) in Abschiebungshaft zu nehmen und unverzüglich zur polnischen Grenze in Sammeltransporten abzuschieben.
Als Ausländer durften die Verhafteten nur 10 Reichsmark mitnehmen. Erlaubt war auch ein Handgepäck mit Vorrat für zwei Reisetage. Die Vorgehensweise war unterschiedlich. Teilweise wurden nur Männer verhaftet, ganz absichtlich mit der zynischen Vermutung, dass die Ehefrauen und Kinder später freiwillig folgen werden. Unbekannt sind die Zahlen der während dieser Deportation erkrankten, geschlagenen und gestorbenen Menschen. Niemand hat solche Statistiken geführt. Tausende wurden über die grüne Grenze nach Polen gejagt, bevor die polnische Seite die Entscheidung traf, die noch gebliebenen Deportierten in der kleinen Grenzstadt Zbąszyń festzuhalten.
Ohne Geld, beraubt von ihrem ganzen Vermögen, ohne materielle Gegenstände, die man für den Alltag braucht, überwiegend ohne polnische Sprachkenntnisse, waren die deportierten polnischen Juden vom ersten Tag an auf Hilfe von anderen angewiesen. Nur dank einheimischer Polen wurde das Schlimmste verhindert. Relativ schnell waren auch Mitarbeiter von Joint und anderen Hilfsorganisationen nach Zbąszyń gekommen. Am 29.10.1938 wurde die massenhafte Deportation gestoppt. Der wichtigste Grund dafür war für Hitler die sehr ungewöhnliche Reaktion der Polen. Anstatt nachzugeben und ratlos zu sehen, was die Deutschen so tun, hatte der polnische Politiker Józef Beck Maßnahmen ergriffen, die die Deutschen fast in einen Schockzustand versetzten. In Polen hatte man angefangen, Deutsche zu verhaften und zur Grenze abzutransportieren. Das »Deutschtum« in Polen wurde bedroht. Damit hatte wohl keiner gerechnet. Die mutige und entschlossene Vorgehensweise der Polen zeigte, dass Hitler gezwungen werden konnte nachzugeben, wenn man ihn unter Druck setzte, wenn man nicht nur »Nein« sagte, sondern auch Gegenmaßnahmen ergriff. Die Deutschen waren schließlich bereit zu diplomatischen Gesprächen. Einige von den Transporten, die schon zur polnischen Grenze unterwegs waren, wurden sogar zurückgeschickt.
Die Deportation verursachte einen Zwischenfall, der die Situation der Juden im Dritten Reich sehr erschwerte. Ein 17-jähriger polnischer Jude, Herszel Grynszpan, der zu dieser Zeit in Paris lebte, bekam Post von seiner Familie mit der Beschreibung des Elendsweges von ihrem Wohnort Hannover bis nach Zbąszyń, dem Deportationsort. Aus Verzweiflung und mit Wut im Bauch kaufte sich der Junge einen Revolver und ging in die deutsche Botschaft in Paris. Dort schoss er fünfmal auf einen der deutschen Diplomaten (Ernst vom Rath). Zwei Tage später starb das Opfer des Attentats in einem Pariser Krankenhaus. Die deutsche Propaganda nahm das Attentat zum Anlass für die Judenpogrome am 9. und 10. November. Auch unter den deportierten Juden in Zbąszyń herrschte Angst. Die Familie Grynszpan bekam einen neuen Namen, so wollte man sie vor den Gestapo-Agenten schützen.
Erst am 24. Januar 1939 kam es in Berlin zu einem vorläufigen Abkommen zwischen Deutschland und Polen. »Die deutsche Regierung war bereit, eine (…) vorübergehende Rückkehr in das Reichsgebiet zu gestatten, wenn diese zur Regelung ihrer persönlichen und geschäftlichen Verhältnisse notwendig ist und der Antrag innerhalb von vier Wochen vom heutigen Tage ab (24.01.1939) gestellt wird. Die Liquidationserlöse und sonst zustehenden Kapitalbeträge müssten auf ein besonderes, zu diesem Zweck eröffnetes Konto bei einer noch zu vereinbarenden deutschen Devisenbank eingezahlt werden. (…) Die Zahl der Rückkehrer, die sich zu irgendeinem Zeitpunkt in Deutschland befindet, soll Tausend nicht übersteigen. Die polnische Regierung hat sich u.a. verpflichtet die Ehefrauen und unter 18 Jahre alten Kinder der Ausgewiesenen, jederzeit nach Polen zu lassen.«1
Unabhängig von den Verhandlungen lief das Leben der Deportierten in Zbąszyń. Es wurden Sprachkurse und berufliche Umschulungskurse organisiert. Später wurden die Menschen in kleinen Gruppen, nach den erlernten Berufen, ins Landinnere gelassen und an verschiedene Städte und jüdische Gemeinden verteilt. Der deutsche Angriff auf Polen machte indes jede Hoffnung auf ein neues Leben zunichte.
Der 28. Oktober 1938 war ein Freitag. Nach dem Sonnenuntergang sollte, wie gewohnt, die Zeit des Sabbats beginnen. Laut der strengen Vorschriften der jüdischen Religion, sollten die Gläubigen an diesem heiligen Tag jede Tätigkeit vermeiden, die man als Arbeit betrachten konnte, z.B. das Tragen von Gepäck und das Reisen. Der 18-jährige Marceli Reich, der damals in einer kleinen möblierten Wohnung in Berlin-Charlottenburg wohnte, wurde kurz vor 7 Uhr am Morgen von einem Wachmann geweckt und aufgefordert mitzugehen. In die Hand bekam er ein Abschiebungsbescheid. Absolut überrascht, versuchte der junge Mann, darauf hinzuweisen, dass er gemäß des Schreibens 14 Tage Zeit habe, das Land zu verlassen und sogar einen Widerspruch einlegen könne. Der »Gesetzeshüter« zeigte jedoch kein Verständnis für solche rechtlichen Nuancen.
Auf den Internetseiten des Kulturrings findet sich unter dem Menüpunkt »Konkret« ein Verweis auf eine Projektarbeit, die diesen historischen Ereignissen gewidmet ist. Neben der kurzen Einführung gibt es eine Chronik und wohl die bis jetzt umfassendste (854 Namen) online zur Verfügung stehende Namensliste der deportierten polnischen Juden.
Infos im Internet:
kulturring.org/konkret/polenaktion
http://www.zbaszyn1938.pl/
Bei der Verhaftung ahnte der zukünftige Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki noch nicht, dass er nur einer von tausenden polnischen Juden war, die schon seit dem Vortag (27.10.1938) im ganzen Reichsgebiet verhaftet und zu diversen Sammelpunkten gebracht wurden. Weiter ging es zur polnischen Grenze. Eine Projektarbeit des Kulturring in Berlin e.V. ist nun diesem historischen Ereignissen gewidmet, das vielen unbekannt ist. Der »Polenaktion« von 1938 in Berlin.
1 H.G. Adler »Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland« J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1974, Seite 98/99.