»Wir klagen an«
25. Juli 2017
Im Mai fand in Köln das »NSU-Tribunal« statt
Das Münchner Verfahren gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU), die Hauptangeklagte Beate Zschäpe und Unterstützer neigt sich dem Ende zu. Doch die Ergebnisse der Verhandlungen sind ernüchternd. Wer gehofft hatte, über das weit verzweigte Netzwerk des NSU oder die Verstrickung der Sicherheitsorgane in die Terrorserie mehr zu erfahren, wurde bisher enttäuscht. Angeklagt sind nur wenige Neonazis. Relevante Fragen, die durch die Nebenklage der Angehörigen der Opfer immer wieder gestellt werden, bleiben unbeantwortet. Auch die Untersuchungsausschüsse der Länder und im Bundestag umschiffen die Probleme eher und verheddern sich im Kleinklein. Merkels Versprechen von 2012, den NSU-Komplex vollständig aufzuklären, bleibt unerfüllt. In der politisch-juristischen Inszenierung werden die Opfer des NSU zu StatistInnen und der NSU zum Ausrutscher der Sicherheitsbehörden. Dabei ist doch offensichtlich, dass der NSU nur morden konnte, weil Neonazis von Teilen der Gesellschaft und des Staates verharmlost, geschützt und gefördert wurden. Rassistische Klischees gegenüber den migrantischen Opfern verhinderten eine Aufdeckung der wahren Hintergründe. Auch die »kritische Öffentlichkeit« versagt hier auf ganzer Linie. Doch wo kommen diese Zusammenhänge zur Sprache und wird an ihrer Überwindung gearbeitet?
Leerstelle Opferperspektive
Um einige Leerstellen der Aufarbeitung zu schließen, aber vor allem um die Opferperspektive in den Mittelpunkt zu rücken, fand in Köln-Mühlheim das NSU-Tribunal mit rund 800 Teilnehmenden statt. An fünf Tagen konnten in kleineren Workshops und größeren Abendveranstaltungen rund um den NSU-Komplex, Alltagsrassismus und die Kämpfe dagegen diskutiert werden. Zentral waren die Geschichten der Betroffenen des NSU-Komplexes, die im geschützten Rahmen ihrer Trauer Ausdruck verleihen, ihre Analysen präsentieren und ihre Forderungen stellen konnten. Der Ort in der Nähe der Keupstraße wurde bewusst gewählt. Hier ließ der NSU 2006 eine Nagelbombe explodieren. Die vor allem türkischstämmigen Gewerbetreibenden waren jahrelang falschen Verdächtigungen durch die ErmittlerInnen und durch die Öffentlichkeit ausgesetzt. Nach der Selbstenttarnung des NSU 2012 gründeten sie die Initiative »Keupstraße ist überall« um auf ihre Erfahrungen als Opfer von Neonazigewalt aufmerksam zu machen. Die Initiative ermutigte viele andere ihre Stimme ebenfalls zu erheben. Ihre Forderung: Den NSU als Komplex wahrzunehmen und die Aufklärung entsprechend breit anzulegen.
Da dies in den letzten vier Jahren nicht durch die zuständigen Stellen erfolgte, wurde nun ein eigener Beitrag zur Aufklärung geliefert. Das Tribunal mündete in neun Anklagepunkten gegen etwa 100 namentlich genannte Personen. Darunter nicht nur viele Neonazis, PolizistInnen und Verfassungsschützer-Innen, sondern auch PolitikerInnen und JournalistInnen. Denn so die Tribunal-MacherInnen: »Jeder besitzt einen Spielraum und kann sich entscheiden, ob er ein Opfer anlügt, eine Akte vernichtet, ein Gedächtnis vor Gericht verliert oder wider besseres Wissen die Aufklärung behindert oder nicht.« Wer den NSU-Komplex tatsächlich aufklären will, muss all diese Dimensionen betrachten.
Die Anklage
Als erster Punkt wird die gesellschaftliche Akzeptanz und das Klima der Straffreiheit für rassistische Gewalt zur Geburtsstunde des NSU in den 90er Jahren aufgeführt. Nicht nur der Polizeieinsatzleiter bei dem Pogrom am Rostocker Sonnenblumenhaus 1992, Siegfried Kordus, wird hier benannt, sondern auch die jetzige Bundeskanzlerin, die damals als Bundesjugendministerin die akzeptierende Jugendarbeit für Neonazis forcierte. Ein weiterer Anklagepunkt befasst sich mit der Durchführung und Planung des Neonaziterrors. Alte Bekannte aus dem Blood&Honour Spektrum und V-Personen finden sich hier wieder. Die Verharmlosung und Leugnung rechtsterroristischer Strukturen und indirekte Förderung als »Möglichkeitsstrukturen« kommen ebenso zur Sprache. Ein Angeklagter, der Totalitarismusforscher Eckhard Jesse, der den Sicherheitsbehörden immer wieder bescheinigte, dass die Neonaziszene eher subkulturell geprägt ist und als Gefahr hochgespielt werde. Für einige Furore dürfte noch der Anklagepunkt zur medialen (De-)Thematisierung des rassistischen Tatmotivs und die Diffamierung der Opfer sorgen. Hier werden namhafte JournalistInnen, wie der aktuell vom NSU-Prozess berichtende ARD-Terrorexperte Holger Schmidt, benannt.
Wahrscheinlich war das ein Grund dafür, dass das Tribunal nur wenig medialen Wiederhall fand. Die nächsten Jahre werden zeigen, ob der Anspruch der Anklage, dass die Gesellschaft politische und nicht nur juristische Konsequenzen ziehen möge, erfüllt wird.