Hinderlicher Tunnelblick
4. November 2017
Wirklich Neues über Kindheit, Jugend und Widerstand von Erich Honecker?
Martin Sabrow, Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschungen in Potsdam, wurde 2006 Vorsitzender der von der Bundesregierung eingesetzten Kommission, die Empfehlungen für eine zukünftige Forschungsstrategie zur „Aufarbeitung der SED-Diktatur“ vorlegt hat. 2016 publizierte er, in diesem Geist, ein Buch, das sich als erste wissenschaftliche Aufarbeitung von Erich Honeckers Kindheit und Jugend von 1912-1945 präsentiert. Der erhebliche Forschungsaufwand förderte einige neue Details aus Honeckers Widerstands-und Überlebensgeschichte zu Tage. Und doch ist diese biografische Studie im hochmütigen Ton der Sieger-Historiografie nach 1989 geschrieben, treu dem damals gemachten Aufruf Klaus Kinkels: „Es muss uns gelingen, das SED-System zu delegitimieren.“ Unbeeindruckt blieb der Historiker von den Warnungen C. F. von Weizsäcker gegenüber Honeckers Leben: „ Westliche Triumpfe … mit uns habe nunmehr die Wahrheit gesiegt, stehen unter einer ebenso großen Versuchung der Selbstbelügung … Die Probleme, die vor uns stehen und die wir nicht gelöst haben, dürfen nicht für einen Augenblick verdrängt werden, so die Marginalisierung einer Unterschicht, die keine demokratischen Mehrheiten erzeugen kann…“
Beim Versuch, die von der SED-Geschichtsschreibung sicher glorifizierte Darstellung von Honeckers Leben bis 1945 zu entzaubern, verspielt Sabrows antikommunistischer Tunnelblick die Chance, am Beispiel Honeckers, die schwierige soziale, mentale und antifaschistische Vorgeschichte vieler politischer Protagonisten der DDR und ihrer darauf basierenden Lebensleistungen und politischen Defizite durch eine historiografisch gerechte Tiefenbohrung zu reflektieren. Er bleibt weitgehend der westlichen Grundtorheit verhaftet, allzu vordergründig, etwa die Lebensleistungen des jungen Honecker abzuwerten. Sabrow ersetzt nur die Helden-Schablone der SED- Geschichtsschreibung durch die Schablone seines angeblichen Scheiterns. So aber lassen sich weder die widersprüchlichen Erinnerungen der Ostdeutschen an die Vor- und Alltagsgeschichte der DDR verdrängen, noch die steigende Zahl von differenzierenden Zeitzeugenberichten und das unübersehbaren Erbe von Kunst und Literatur aus und über die DDR und ihre Vorgeschichte. Dem kritischen Leser stößt sogleich auf Seite eins die stigmatisierende Absicht des Autors auf: „Während die charismatische Aura des faschistischen Diktators in der propagierten Einzigartigkeit der Führerpersönlichkeit hervortrat, verehrte die politische Kultur des SED-Regimes noch im Individuum das Ganze: >> Er hat uns vom Ich zum Wir geführt… Walter Ulbricht – das sind wir alle!<<“ – so zitiert Sabrow unvermittelt Otto Gotsche, einst Referent bei Ulbricht. Und im nächsten Absatz heißt es, dass das ins „kulturelle Gedächtnis eingebrannte Bild Erich Honeckers“ weniger „ein Produkt persönlicher Prägung als vielmehr politische Inszenierung“ sei, das einem „einheitlichen Normierungsanspruch“ unterworfen und der „Besonderheit“ beraubt wurde: „Die kommunistische Wir-Biografie des neuen Menschen brach mit dem auf bloße Ich-Entfaltung gerichteten Bildungs- und Entwicklungsroman des bürgerlichen Zeitalters; nicht individuelle Einzigartigkeit sollte sie illustrieren, sondern lehrreiche Vorbildlichkeit.“ Sollte also der Völkermörder Hitler in „Mein Kampf“, dem Vorbild des bürgerlichen Bildungsromans besser gefolgt sein, als Honecker, der sein „Ich“ in der Selbstdarstellung, nach dem Personenkult der Stalinzeit, radikal zurücknahm? Die Losung in der DDR: „ Vom Ich zum Wir“ oder „Der Staat – das sind wir“ , diente angeblich nur zur Entindividualisierung und Normierung des Einzelnen unter die „SED- Diktatur“. Sabrow entgeht völlig, dass damit vor allem auch gegen den egomanischen Herrenmenschenkult angegangen wurde, zu dem die Deutschen in der NS-Zeit erzogen und in den 2. Weltkrieg getrieben worden waren. Im Unterschied zur BRD rangierte in der DDR der Einsatz für das Gemeinwohl vor egoistischem Eigennutz. Soziale Empathie wurde höher bewertet als bürgerlicher Individualismus. Dass das oft Ideologie blieb und das „Ich“ dabei häufig zu kurz kam und dadurch keine historisch tragfähige, gesellschaftliche Alternative entstand, wurde nachdenklichen Zeitgenossen auch in der DDR schon ziemlich früh und schmerzhaft klar. Weiter behauptet die Einleitung, dass die Erfassung von Honeckers Leben nicht auf die geschichtliche Rolle seiner Persönlichkeit zielen könne. Vielmehr müsse sie „die Spieglung der Geschichte in der Persönlichkeit“ verfolgen und sich mit „ihrer autobiografischen und parteiamtlichen Beherrschung in der DDR“ auseinandersetzen. Das erweist sich indes als billiger Trick, um die Widerstandsleistungen Honeckers während der NS-Zeit als weitgehend gescheitert zu denunzieren und ihn nur als Produkt illusionärer, kommunistischer Indoktrination und als kleines Widerstandslicht darzustellen. Was kam nun auf den 622 Seiten und über 1595 Anmerkungen an wirklich neuen Erkenntnissen über den künftigen Repräsentanten der DDR heraus, der nur acht Schulklassen, eine abgebrochene Dachdeckerlehre und schließlich zwei Jahre Parteischule absolviert hatte? Über die Bitte Maxwells zu seiner überwiegend von SED- Historikern geschriebenen Honecker – Autobiografie schwadroniert Sabrow: “ Doch dass ein kommunistischer Machthaber im Stile eines Winston Churchill persönlich zur Feder greifen…. lag … außerhalb staatssozialistischer Denkwelt“ Honecker soll nun nicht aus einer klassisch, proletarisch-linken Bergmannsfamilie stammen. Er und sein Vater, mit dem er im Spielmannszug trommelte und, von dem er sich angeblich nie abnabelte, vermittelte ihm jedoch früh den „kommunistischen Gesellschaftsentwurf“. Aber die Familie war „eher kleinbürgerlichen Zuschnitts“. Der Vater habe von der Novemberrevolution nur aus der Zeitung erfahren. Dann heißt es weiter: Erst hat Honecker „ mit einer landwirtschaftlichen Karriere … geliebäugelt und dann eine Dachdeckerlehre … abgebrochen, bevor er eine Laufbahn als kommunistischer Berufspolitiker startete, die ihn zuerst in die regionale Jugendpolitik und bald darauf in der illegalen Widerstandsarbeit im Reich in verantwortungsvolle Positionen aufsteigen ließ, aber neben beeindruckenden Erfolgen auch viel geschäftlichen Leerlauf und eklatantes Scheitern mit sich brachte.“ Zeitlebens blieb Honecker jedoch seiner Heimat „tiefgreifend“ verbunden und kämpfte, zunächst auch unter Leitung Herbert Wehners, vergeblich gegen die Wahlentscheidung der Saarländer für Deutschland. Mit Wehner war er danach in einen misslungenen Anschlag auf ein Parteibüro der Deutschnationalen verwickelt, wofür er einen Tadel der Partei erhielt. Obwohl Thälmann und Stalin seine Vorbilder waren, bewerkstelligten u.a. die beiden, entgegen der sektiererischen Linie der KPD, immerhin eine antifaschistische Einheitsfront- Demonstration. Sabrow weiß nicht zu würdigen, dass sich das alte Vertrauensverhältnis zwischen Wehner und Honecker, trotz der Brüche, bis in die spätere Entspannungspolitik positiv auswirkte, die letztlich auch zur Überwindung der deutschen Spaltung und Nachkriegsordnung beitrug.
Nach 1933 lebte Honecker kurzzeitig im Pariser Exil, wurde aber von den Genossen auf ein „Himmelfahrtskommando“ nach Berlin geschickt, wo sich der gut Zwanzigjährige wie ein „Grünschnabel“ benahm. In der ihm unbekannten Hauptstadt ließ er, sicher in der Aufregung, einen Koffer mit illegalem Material im Taxi liegen, wodurch ihm die Gestapo auf die Spur kam. Er wurde also durch „eigenes Verschulden“ und „geständnisbereit“ zu zehn Jahren Haft verurteilt. Anders als es allerdings die Medien nach 1989 meldeten, verriet er keine Mitstreiter, sondern sagte, gemäß illegalem Codex, nur das aus, was die Gestapo ohnehin wusste. Sabrow will hier eine Kooperation mit der NS- Justiz „ heraushören“.
Nach seiner Verurteilung, gehörte der dem KZ, ja der Hinrichtung entgangene Honecker, nicht zur illegalen Parteileitung im Gefängnis, sondern sorgte „unauffällig“ u.a. als Kalfaktor dafür, dass seine Kameraden besser mit Kleidung und Essen vorsorgt wurden. Aber Sabrow mutmaßt hier „Umrisse einer neuen Identität“, weil der Vater in einem abgelehnten Begnadigungsschreiben schrieb, dass sein Sohn sich als Bauhandwerker und Dachdecker „am Aufbau Deutschlands und der Erringung des Sieges für Deutschlands Größe“ beteiligen wolle. Gegen Kriegsende ließ sich Honecker sogar auf eine Liebesbeziehung mit einer Schließerin im Frauengefängnis ein, über dessen Dach er Bombenschäden beseitigen sollte. Als er, nach einer missglückten Flucht, in den Ruinen Berlins keine Unterkunft fand und bei dieser Schließerin, die er später kurzzeitig ehelichte, Obdach fand, sorgte sie mit dafür, dass er sanktionslos ins Gefängnis Brandenburg zurückgeführt wurde, bevor die Rote Armee ihn dort befreite. Diese angeblich spektakulären Enthüllungen Sabrows vermenschlichen Honecker, offenbar wider Willen, als ihm das selbst in seiner Autobiografie gelungen ist. Dennoch sind es immer noch die alten Strickmuster des Kalten Krieges, der Nichtanerkennung von Lebensleistungen vor und während der DDR- Geschichte, mit denen, der zweifellos dort idealisierte Staatslenker „wissenschaftlich“ evaluiert werden soll. Zugleich widerlegt Sabrow selbst seine Eingangsthese, da es erstaunlich sei, wie stark Honeckers „individuelle und generationelle Lebenserfahrung“ durch den „unpersönlichen Charakter der SED-Herrschaft hindurch schimmert.“
Der Historiker reflektiert an keiner Stelle, warum die lange in das NS-System verstrickten und schließlich gescheiterten Hitler-Attentäter um Graf Staufenberg bis in die 60iger Jahre in der Bundesrepublik als Landesverräter galten, während in der DDR Menschen, die vor und nach 1933 Widerstand leisteten, von Anfang an gesellschaftliche Anerkennung erfuhren. Obwohl zur bitteren Wahrheit aller heroischen Widerstandshandlungen von Deutschen auch gehört, dass erst die geballte Macht der Alliierten, mit Millionen von Opfern auf allen Seiten der Fronten, die Welt und die Deutschen vom Hitlerregime befreien konnten.
Die angeblich spektakulären Enthüllungen Sabrows über Honeckers Haftzeit vermenschlichen ihn, offenbar wider Willen mehr, als ihm das selbst in seiner Autobiografie gelungen ist. Zugleich widerlegt Sabrow selbst damit seine Eingangsthese, da es erstaunlich sei, wie stark Honeckers »individuelle und generationelle Lebenserfahrung« durch den »unpersönlichen Charakter der SED-Herrschaft hindurch schimmert.«