Der »Vergeltungs«-Terror
10. November 2017
Wie Wehrmacht und SS im deutsch besetzten Europa wüteten
Kürzlich erschien im Schöningh Verlag Paderborn eine Zusammenstellung von Vorträgen und Forschungsergebnissen zu den Folgen der »Vergeltungsmaßnahmen« von Wehrmacht und SS im besetzten Europa während des Zweiten Weltkriegs. Oliver von Wrochem legt darin 16 Beiträge von Historikern vor, die sich seit langem im Rahmen der Gedenkstättenarbeit und historischer Untersuchungen mit dem System von Zwangsarbeit, deportierter Widerstandskämpfer und Geiseln aus besetzten Ländern Europas auseinandergesetzt haben. Dabei geht es um Mechanismen zur Aufrechterhaltung der Besatzungsmacht gegen den wachsenden Widerstand im besetzten Europa. Genauer betrachtet werden die Legitimationsstrategien, die Entwicklung des Repressionsapparates in der ersten Kriegshälfte und die Kriegsendverbrechen, ausgehend von der Rathausausstellung in Bremen im Januar 2015 zu den vergessenen Orten des Terrors und den darauffolgenden Foren.
Mit den Repressalien gegen Murat, Meensel-Kiezegem, Putten und Warschau sollten Oliver von Wrochem zufolge »vermeintliche oder tatsächliche Widerstandsakte geahndet und die Bevölkerung in den besetzten Ländern eingeschüchtert werden.« Sie richteten sich vor allem gegen zumeist unbeteiligte Zivilisten. Wehrmacht, Waffen-SS und SIPO wurden bei ihren tausendfachen Mordtaten durch örtliche Kollaborateure unterstützt. Rassistische Motivation und totale, zügellose Kriegsführung dieses Vernichtungskrieges traf die besetzten slawischen Gebiete Ost- und Südosteuropas ungleich härter als West-und Nordeuropa. In Ost- und Südosteuropa standen die (vorausgegangenen) Widerstandshandlungen selten im Zusammenhang mit den getroffenen »Vergeltungsmaßnahmen«. Im Vordergrund stand bei Wehrmacht, SS-Einsatzgruppen und zivilen Stellen der Vernichtungskrieg gegenüber dem jüdischen Bevölkerungsteil, der nationalen Intelligenz und dem »Bolschewismus«.
Nur unter Umkehrung der Ursachen konnte die Besatzungsmacht »Vergeltung« betreiben, wie Habbo Knoch hervorhebt. Moralische Maßstäbe wurden außer Kraft gesetzt, das Feindbild einer aus dem Hinterhalt agierenden dunklen Macht entwickelt und verbreitet. Wurden in der ersten Kriegshälfte im besetzten Nord- und Westeuropa nur vereinzelt Geiseln erschossen, Ortschaften niedergebrannt, Gruppen von Menschen deportiert, ganze Landstriche geplündert und die Felder abgebrannt, so war dies in Ost- und Südosteuropa gängige Praxis. »Vergeltungsaktionen« der Wehrmacht erfolgten ohne vorausgegangene Widerstandsakt. Die zivile Bevölkerung wurde mit dem Widerstand gleichgesetzt, und unter Generalverdacht gestellt. In Serbien wurden Partisanen, Juden, Kommunisten, Roma gleichermaßen als Widerstandpotential angesehen. Die männliche Bevölkerung ganzer Ortschaften wurde erschossen, Frauen und Kinder in Lager verschleppt, die Ortschaft niedergebrannt. Die bereits vorgesehene Bevölkerungsumsiedlung folgte dem Niederbrennen der Ortschaften. Örtliche Stellen und kollaborierende Teile der Bevölkerung wurden bei Vernichtungsaktionen einbezogen, selbst im tschechischen Lidice wie im norwegischen Telavog.
Nach Landung der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie richteten sich Aktionen des Widerstandes in starkem Maße auch gegen kollaborierende Kräfte in der eigenen Bevölkerung. In dieser letzten Kriegsphase wurden verstärkt auch Ortschaften in Nord- und Westeuropa von Repressalien und rassistisch motivierten Übergriffen gegen die Zivilbevölkerung getroffen. »Vergeltungsmaßnahmen« in vergleichbarer Härte, wurden meist durch vorher im Krieg im Osten verrohte militärische Einheiten verübt. Kurz vor dem Abzug wurden noch Tausende in die deutschen KZ verschleppt. Der Widerstand erhielt dadurch starken Zulauf. Die Folgen der Vernichtung der Lebensplanung in den verwüsteten Ortschaften und in den durch Deportation des Familienoberhauptes zerrissenen Familien sind bis heute bei weitem nicht aufgearbeitet. Das ritualisierte Gedenken trägt zur Verlängerung der Opfersituation bei. Die Nichtaufarbeitung der Verquickung von Krieg, Besatzung, rassistischer Gedankenwelt verhindert bislang eine Auseinandersetzung der überlebenden Opfer und ihrer Angehörigen mit der eigenen Rolle. Es verhindert auch die Auseinandersetzung mit der Kollaboration im eigenen Ort.