Versuche, zu verstehen
1. April 2018
Fragen und Antworten zwischen drei Generationen
Shalom Weiss schrieb vor etwa 30 Jahren unter dem Titel »Einer aus jeder Stadt« seine Erinnerungen an das Schicksal seiner Familie in der Shoa nieder. »Inzwischen ist mir klar geworden, dass mein Leben aus drei Abschnitten besteht, die miteinander verbunden sind. Es beginnt mit einer Jugend, voller Lebensfreude, in einer Diaspora-Gemeinde, die typisch war für das orthodoxe Judentum in Osteuropa. Es setzte sich fort in der Shoa und im Überleben und es endet in dem Erlebnis der Auferstehung in der alten-neuen Heimat«, so seine Begründung für das neue Buch.
Und so gliedert sich das Buch in die drei Hauptteile »Kindheit«, »Shoa« und »Auferstehung«.
Das erste Kapitel über eine jüdische Diaspora-Gemeinde, deren Realität schon von vielen anderen jüdischen Autorinnen und Autoren beschrieben wurde, lebt von der erfrischenden Perspektives eines Jugendlichen, der mit Neugier, aber auch mit einer gewissen aufgeklärten Distanz das religiöse Alltagsleben nachzeichnet. Doch schon hier wird durch die Ghettoisierung das kommende Verhängnis spürbar.
Im zweiten Teil beschreibt Shalom Weiss seine Verfolgungsstationen beginnend in Auschwitz-Birkenau und später in Sachsenhausen, Bergen-Belsen, Bremen – Farge bis zur Befreiung. Dabei beschreibt er nur, setzt aber voraus, dass die Lesenden begreifen, was mitgemeint ist, wenn er beispielsweise von seinem Mithäftling David Schönwald erzählt, der nicht für die Nazis arbeiten wollte und sich als »arbeitsunfähig« aussondern ließ. Er benennt dessen Schicksal nicht, aber der nächste Abschnitt trägt die Überschrift »Der Rauch aus dem Schornstein«.
Eindrucksvoll sind in diesen beiden Kapiteln die schlichten schwarz-weißen Skizzen, die dessen Eindrücke eines Jugendlichen über den Alltag, aber auch die Verfolgungssituation nachzeichnen.
Das folgende Kapitel handelt fast zur Hälfe von den Herausforderungen für einen jungen Juden, dessen Familie durch die Verfolgung entweder ermordet oder aber in ganz Europa verstreut war, sich zu orientieren. Für ihn gab es nur das Ziel Eretz-Israel, aber so einfach war das überhaupt nicht. Erst nach längerer Vorbereitung gelangte er mit der Auswanderung ungarischer Juden nach Haifa, wo er nicht nur das »gelobte Land«, sondern auch dessen Bürokratie kennen lernt. Der weitere Lebensweg ist recht kursorisch skizziert, aber Shalom Weiss macht deutlich, dass die Geschichte ihn immer begleitete. So sagt er, dass sein »ganzes Leben im Schatten der Shoa stattgefunden hat, und trotzdem gehöre ich zu den ganz wenigen glücklichen Überlebenden, die trotz der Wunden an ihrem Körper und in ihrer Seele nie aufhören können, ein normales Leben zu führen – mehr oder weniger.«
Vielleicht liegt es an dem regelmäßigen Austausch, den er mit seinen Kindern, Enkeln und als Zeitzeuge mit anderen Jugendlichen gepflegt hat, denen er über seine Erfahrungen berichtete. Viele andere Überlebende waren dazu nicht in der Lage.
Besonders interessant ist der vierte Teil: Versuch zu verstehen – Drei Generationen: Fragen und Antworten. Nicht chronologisch oder thematisch strukturiert, sondern eher dem Nachfragebedarf der verschiedenen Generationen folgend, listet Shalom Weiss auf über 100 Seiten Fragen und seine Antworten auf, in denen er zum Teil sehr persönliche Eindrücke jüdischen Lebens, seine Verfolgungserfahrungen und den Umgang mit Geschichte sowie persönliche Perspektiven und Hoffnungen beschreibt. Den Abschluss bilden zwei Kapitel mit Texten seiner Töchter und seiner Enkel über die Perspektiven der zweiten und dritten Generation, die für sich einen Umgang mit der Geschichte suchen. So formuliert Daniela als Fünfzehnjährige: »Für mich bedeutet dritte Generation zu sein, immer zu wissen, woher du kommst, und dir nie zu erlauben, es auch nur für einen Augenblick zu vergessen.«
Auffällig ist, dass in Zeiten, in denen vielstimmig in den Leitmedien die Gefahr eines neuen Antisemitismus beschworen wird, es eine überraschende Ignoranz gegenüber der realen Lebensgeschichte jüdischer Menschen gibt. Ein – sicherlich unvollständiges – Suchergebnis zu bisherigen Buchbesprechungen förderte bis Anfang Januar 2018 nur eine knappe Annotation in einer österreichischen jüdischen Kulturzeitung zutage. Liegt es vielleicht daran, dass Weiss mit seiner Art der Behandlung des Themas der »einfachen Betroffenheitsliteratur« widerspricht? Es ist ein nachdenkliches, aber auch ein hoffnungsvolles Buch. David Grossmann nannte den Text »wunderbar, voller Emotionen, manchmal komisch, mit einem feinen Schuss Ironie.« Dem stimme ich zu.