Antisemitismus davor und danach
21. Juni 2018
Die Lebenserinnerungen Semjon Shpungins aus Lettland
Auf Daugavpils, die zweitgrößte Stadt Lettlands und den Geburtsort Semjon Shpungins, bin ich auf einer kleinen Reise eher zufällig gestoßen. Von den 40 Synagogen, die in den 30er Jahren diesem ehemaligen kulturellen und religiösen jüdischen Zentrum existierten, ist wohl nur noch eine übriggeblieben, und die ist heute ein Museum. Shpungins Familie war gläubig, aß koscher und hatte ein schönes Sommerhaus, der Vater betrieb ein Fotoatelier. Semjon Shpungin beschreibt seine Jugend als glücklich Beim Einmarsch der deutschen Truppen, am 6. Juni 1941, waren 25 Prozent der Einwohner Jüdinnen und Juden. Man sprach jiddisch, russisch, lettisch und deutsch. Es sollte nur wenige Monate dauern, bis sie fast ausnahmslos von den Deutschen und ihren lettischen Kollaborateuren ermordet worden waren. Auf der Straße nach Riga fährt man am ehemaligen Ghetto, dem einstigen Vorwerk der Zitadelle Dünaburg/Daugavpils und nur wenige Kilometer weiter am Wald von Poguļanka vorbei. Hier war der Erschießungsort und ein kleines Mahnmal erinnert an die Opfer. 15- bis 20.000 Juden und Jüdinnen aus Daugavpils und Umgebung durchliefen das Getto von 1941 bis 1943. Nur etwa hundert überlebten den Holocaust, Semjon Shpungin war einer von ihnen. Ihm gelang als 14-jähriger bei der Liquidierung des Ghettos die Flucht, danach überlebte er unter falscher Identität als Zwangsarbeiter auf einem lettischen Bauernhof.
Bei der Befreiung wird er von einigen Rotarmisten antisemitisch verspottet, ein Schock für den ehemals begeisterten Jungpionier. Damit beginnt der zweite Teil des Buches. Der jugendliche Sema lernt Ilja Ehrenburg und einige Mitglieder des Jüdischen antifaschistischen Komitees kennen, dessen Mitglieder nur wenige Jahre später zum großen Teil vom KGB liquidiert werden. Hier kommt es zur ersten Niederschrift seiner Erinnerungen. Er wird von Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg für das »Schwarzbuch: ›Über den Genozid an den sowjetischen Juden‹ interviewt. Das Buch wurde jedoch schon bei der Herausgabe beschlagnahmt und konnte erst 1980 in Israel veröffentlicht werden. Es wäre sicherlich spannend, beide Versionen seiner Erinnerung miteinander zu vergleichen.
Shpungin wird zum Ziehsohn des populären Schriftstellers Ehrenburg, der ihm ein Journalistikstudium an der Moskauer Lomonossow-Universität ermöglicht. Er arbeitet bis zu seiner Pensionierung für die sowjetische Nachrichtenagentur TASS, davon viele Jahre in Riga. Shpungin berichtet über seinen väterlichen Freund, seine Arbeit als Journalist, seine Begegnungen mit dem KGB, der ihn, den Überlebenden, zeitlebens – immer wieder explizit als Juden – überwacht. Er erzählt von antisemitischen Anwürfen von Schriftstellerkollegen ebenso wie von der jüdisch- sowjetischen Intelligenzija, mit der er meist gut lebt, aber manchmal auch leidet. Die locker aneinandergereihten Episoden sind in einem gut zu lesenden, oft ironischen journalistischen Stil gehalten.
An das Ende des Buches hat Shpungin eine kleine Sammlung Erinnerungstexte von weiteren Überlebenden des Holocaust, zum Teil aus Lettland, gestellt, die er selbst gesammelt und deren Verfasser er persönlich kenngelernt hat.
Der ausführliche und kenntnisreiche Anmerkungs-und Quellenapparat, der auch der Lektorin des Buches zu verdanken ist, und ein Glossar zu jüdischen Begriffen und Judentum können getrost als eigenständiger Teil des Buches und als eine fruchtbare Zusammenarbeit von Autor, Herausgeber und Verlag gelesen werden.
Das Buch ist in russischer Sprache zuerst in Lettland erschienen. Zusammengestellt hat es Shpungin in Bat Yam in Israel, wo er seit seiner »Repatriierung« im Jahr 2000 lebt. Dort ist er Mitglied der Journalistenvereinigung von Tel Aviv und arbeitet in einem parlamentarischen Ausschuss, der sich mit den Belangen von Holocaust-Überlebenden befasst.