Der VVN-Verlag in Ostdeutschland
29. November 2018
Ein kaum bekanntes Kapitel unserer Geschichte: 1947 bis 1953 erschienen Publikationen mit einem pluralen Widerstandsbegriff
Jede gesellschaftliche Organisation in der SBZ/DDR hatte ihren eigenen Verlag, so auch die VVN. Gegründet wurde der VVN-Verlag am 22. September 1947. Er übernahm die vierzehntägliche Mitgliederzeitschrift »Unser Appell«, sie wurde 1949 als Wochenzeitung »Die Tat« fortgeführt. Ferner sollte er Bücher »belehrenden und aufklärenden Inhalts« im Sinne der Ziele der VVN herstellen und vertreiben.
Die dominierende Kraft war das Ehepaar Hanna und Erich Klückmann. Johanna Klückmann, geb. Hofmann (1899-1988), in Berlin geboren, hatte sich 1928 der KPD angeschlossen, war im Widerstand aktiv und kurzzeitig inhaftiert. 1939 hatte sie den Schriftsetzer Erich Klückmann (1893-1975) geheiratet, nachdem er, Kommunist seit 1926, nach vier Jahren Haft wegen Vorbereitung zum Hochverrat aus dem KZ Sachsenhausen entlassen worden war.
Hanna Klückmann war Verlagsleiterin und Geschäftsführerin, Erich Klückmann erst Redakteur, später Chefredakteur der »Tat«. Sie waren hoch motiviert, aber im Verlagsgeschäft unerfahren. Bei den etwa 40 Mitarbeitern sah es nicht viel anders aus. Sie alle arbeiteten engagiert unter Bedingungen, die heute zur sofortigen Schließung der Arbeitsstätte führen würden. Bis Mitte 1951 hausten sie in einer kaum heizbaren Ruine – so das Börsenblatt Leipzig am 13. September 1952, in einem Verlagsporträt.
Der Verlagsalltag ähnelte dem eines alternativen Unternehmens der Jetztzeit. Zuständigkeiten blieben unklar. Mitarbeiter rotierten zwischen Zeitung und Buchabteilung oder arbeiteten beiden Abteilungen zu. Das hieß aber auch: Vieles war möglich, jeder bekam eine Chance. Einsatzfreudige Kollegen machten Karrieren über Nacht. So startete die spätere DDR-Autorin Ursula Wiebach (1914-1978), von Beruf Verkäuferin, im Sekretariat. Als Anzeigendisponentin war sie Mitverfasserin der Begleitbroschüre zur Ausstellung »Das andere Deutschland« über den deutschen Widerstand. Wenig später schrieb sie für das Feuilleton der »Tat«.
Mit der Herausgabe von Verbandsinterna und Infoschriften fing es an. Ab 1948 begann der Verlag, Erinnerungsberichte und Dokumente zur NS-Zeit zu publizieren. Das Programm war anfangs sehr breit angelegt. Ein Buch mit Predigten und Vorträgen über das Leben und Sterben im KZ stammte von dem Theologen Heinrich Grüber, der auf eigene Erlebnisse in Sachsenhausen und Dachau einging. Eine Auschwitz-Buchenwald-Leidensgeschichte verfasste der aus einer jüdischen Familie stammende, eher unpolitische Rolf Weinstock. Das Leben unter deutscher Besatzung schilderten Kinder französischer Widerstandskämpfer. Zu den frühesten deutschsprachigen Zeugnissen der Shoah gehört ein Augenzeugenbericht vom April 1943 über die Liquidierung des Ghettos von Tarnopol.
In Jahrbüchern und Kalendern gab es fast bis zum Schluss einen pluralen Widerstandsbegriff. Beispiele aus dem VVN-Jahrbuch 1951: Am 16. Mai war eine mutige »Demonstration katholischer Jugendverbände in Münster« vermerkt (1935), am 30. Juni wurde an die »Ermordung oppositioneller Elemente in SA und Wehrmacht« (»Röhmputsch« 1934) erinnert, der Opfer des 20. Juli wurde gedacht, am 24. Dezember gab es einen Eintrag zu einer geheimen »Priesterweihe im KZ-Dachau« (1944). Der sozialdemokratische Widerstand wurde geachtet, die »Weiße Rose« wurde in Ehren gehalten; an Sophie und Hans Scholl wurde fast so häufig erinnert, wie an Ernst Thälmann. Auch die Zeugen Jehovas, die »Bibelforscher«, wurden nicht übersehen. Egal, von welcher weltanschaulichen Position aus man opponiert hatte, entscheidend war eine antinazistische Haltung im weitesten Sinne. Es reichte sogar, »nur« einzelne Aspekte des Nationalsozialismus angeprangert zu haben, um mit einem Gedenktag bedacht zu werden. So würdigte man im VVN-Kalender 1950 am 12. Juli den Bischof Graf von Galen, der willens gewesen sei, »die Gnade des Märtyrertodes entgegenzunehmen«.
Zionismus? Anfangs kein Problem: 1949 wurde in einem VVN-Festakt, an der die Jüdische Gemeinde und Vertreter der sowjetischen Besatzungsmacht teilnahmen, »ein Jahr unabhängiges Israel« gefeiert (Die Tat. 11. Mai 1949).
Der Verlag stellte Texte, die aus einem persönlichen Blickwinkel verfasst waren, in einen größeren Zusammenhang. Es wurde umgeschrieben, geglättet, auch Fakten wurden korrigiert, die dem Stand der Forschung nicht entsprachen. Die Manuskripte gingen nach der Lektorierung an Häftlingskomitees der jeweiligen Lager und an Forschungsinstitute der VVN. Deren Anmerkungen hatten einen hohen Stellenwert. Das letzte Wort hatte die Behörde für die Druckgenehmigung, auch hier wurden gelegentlich Wünsche geäußert.
Als sich der Kalte Krieg verschärfte, nordeten »VVN-Kollektive« die Manuskripte entsprechend der aktuellen SED-Linie ein. Vor- und Nachworte verlängerten die Zeit des Faschismus in die unmittelbare Gegenwart. Titel wurden storniert, wenn Autoren ins politische Abseits gerieten, Bücher aus dem Handel zurückgezogen. Das Glattbügeln versuchte sich der Verlag schließlich dadurch zu erleichtern, dass er auf die romanhafte Darstellung von Erlebnissen auswich. Gleichzeitig sollten die Bücher nicht mehr die NS-Zeit im Fokus haben, sondern das Hier und Jetzt.
Der VVN-Generalsekretär gab 1951 die Weisung aus, verstärkt Käuferschichten jenseits der Mitgliedschaft zu adressieren. Im Westen war der Vertrieb kaum möglich, aber auch im Buchhandel der DDR hatte es der Verlag sehr schwer. Simpler Grund: Bücher über die NS-Zeit waren in ganz Deutschland schwer verkäuflich. Die CDU-nahe westdeutsche VVN-Abspaltung, der Bund der Verfolgten des Naziregimes, brachte es in ihrem »Freien Wort« am 7. September 1951 in einer Schlagzeile auf den Punkt: »KZ-Literatur nicht gefragt!« Der VVN-Verlag betonte, dass er nun auch andere Literatur im Angebot habe, Romane über den aktuellen Kampf für den Frieden, in Deutschland und anderswo. Aber der Buchhandel der DDR, der damals überwiegend in privater Hand war, favorisierte die marktgängige Literatur politikferner Verlage.
Neben den Absatzsorgen hatte der Verlag das Problem, dass es in der VVN kriselte. Die SED führte Anfang der 1950er Jahre einen Feldzug gegen politische Abweichungen durch. In der Folge war die Zahl der SED-Mitglieder um fast ein Drittel gesunken. Falls sie NS-Verfolgte waren, nutzten manche Ex-Genossen nun die VVN als politisches Betätigungsfeld. Ideologisch einwandfreie Kameraden ohne Rentnerstatus zogen sich hingegen aus der VVN-Arbeit zurück, weil sie in Staat, Wirtschaft und Partei eingespannt waren. Viele Gremien waren überaltert, kaum arbeitsfähig oder wurden gar von »falschen« Leuten dominiert. Passivität breitete sich aus und der Literaturvertrieb war entsprechend eingebrochen. Die SED und mit ihr die VVN zogen im Januar 1953 die Konsequenzen. Das defizitäre Buchgeschäft wurde eingestellt.
Den VVN-Verlag gab es einige Wochen weiter – als reinen Zeitungsverlag. Als dann am 21. Februar 1953 die VVN aufgelöst wurde, erlebte der Restverlag zum 31. März 1953 das gleiche Schicksal.
Was bleibt? Das späte Verlagsprogramm ist weitgehend vergessen. Aber die frühe Zeitzeugenliteratur in einer weitgehend authentischen Sichtweise räumt dem »Verlag des antifaschistischen Widerstandskampfes« – so die Eigencharakterisierung im VVN-Kalender 1949 – eine bleibende Sonderstellung in der deutschen Verlagsgeschichte ein.
VVN-Verlag: 15 Bücher, die bleiben
1. Bruno Baum: Widerstand in Auschwitz. Bericht der internationalen antifaschistischen Lagerleitung. 1949.
2. Der letzte Brief. Deutsche Opfer des politischen Kampfes 1933 bis 1945 vor ihrer Hinrichtung. 1949.
3. Elfriede Brüning: …damit du weiterlebst. Roman. 1950.
4. Lina Haag: Eine Handvoll Staub. 1950.
5. Die Hölle von Kamienna. Unter Benutzung des amtlichen Prozeßmaterials zusammengestellt von Hans Frey. 1949.
6. Von der Jugendburg Hohnstein zum »Schutzhaftlager Hohnstein«. 1949.
7. Kurt Kühn: Die letzte Runde. Widerstandsgruppe NKFD. 1949.
8. Willy Kreuzberg: Die Flucht. Als KZ-Flüchtling durch fremdes Land. 1949.
9. Klaus Lehmann (Bearbeiter); Zentrale Forschungsstelle der VVN (Hrsg.): Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack. 1948.
10. Zivia Lubetkin: Die letzten Tage des Warschauer Gettos. 1949.
11. Rolf Weinstock: »Rolf, Kopf hoch!« Die Geschichte eines jungen Juden. Bearb.: Anna von Fischer. 1950.
12. Arnold Weiss-Rüthel: Nacht und Nebel. Ein Sachsenhausen-Buch. 1949.
13. Maria Zarebinska-Broniewska: Auschwitzer Erzählungen. 1949.
14. Max Zimmering: Widerstandsgruppe »Vereinigte Kletter-Abteilung« (VKA). Ein Bericht von der Grenzarbeit der Dresdner Arbeiterbergsteiger in der Sächsischen Schweiz und dem östlichen Erzgebirge. 1948.
15. Arnold Zweig: Fahrt zum Acheron. 1951. [Zweig hat den autobiographischen Text von Hilde Huppert redigiert und mit Vor- und Nachworten versehen.]