Himmler beim Denken zuhören
2. Dezember 2018
Rhetorischer Selbstmord in den »Posener Reden«
Ein Tag mit Kopfschmerzen ist nicht der beste, sich eine Rede von Heinrich Himmler anzuhören. Aber es war nun einmal der 4. Oktober, der 75. Jahrestag seiner berüchtigten »Posener Rede« vor dem Führungskorps der SS. Während sich der Rest der S-Bahn-Reisenden hoffentlich fröhlicheren Themen zuwandte, hatte ich ein Bild des Reichsführers auf dem Smartphone und lauschte seinen Worten. Die kürzliche Verfügbarmachung auf youtube (von wem auch immer) in einer Länge von 1h 42 min ist eine Aufbereitung, nämlich ein Zusammenschnitt mit einer zweiten, am 6. Oktober vor Gauleitern und anderen Granden des Reiches gehaltenen Rede. Man kann sich auf dieses Dokument verhältnismäßig gut einlassen, weil Himmler der rhetorisch zurückhaltendste aller Nazi-Größen gewesen ist. Was in diesem Zusammenschnitt fehlt – was aber in einem anderen Video schnell verfügbar ist – ist die 1 min 38 sec. lange Passage, die seit dem Internationalen Militärtribunal, bei dem die Abschrift der Rede Beweismittel war, jeder kennt oder kennen kann: das ausgesprochene Bekenntnis zum Massenmord an den Juden Europas. Dies sei »zweifellos« das »Kernelement« dieser Rede, heißt es in einer heutigen Einleitung zum Text.
Nun ist es sicher sehr wichtig, angesichts der steigenden Anzahl von Menschen, für die Auschwitz im Nebel versinkt, ein solches Tondokument zu haben. Ein Zentrum der Rede ist dieser Abschnitt aber nicht. Beim Hören wird das noch deutlicher als beim Lesen. Die Themen, bei denen Himmler sich ganz sicher ist, sind flüssig und rasch gesprochen – hier ist jemand mit sich im Reinen. Das sind insbesondere die Abschnitte zur Frage, ob es in Deutschland zu einem neuen 1918 kommen könne mit Arbeiterunruhen usw. (Antwort: ganz sicher nicht) und die Abwicklung des Judenmordes, die für ihn zu diesem Zeitpunkt bereits ein weitgehend erledigtes Thema – nein »Ruhmesblatt« – darstellt. Die planmäßige Schließung der Tötungszentren Belzec, Sobibor und Treblinka stand in wenigen Tagen an. Die organisatorisch Hauptverantwortlichen, Oswald Pohl und Odilo Globocnik, werden auch namentlich genannt, aber als Verantwortliche für neue Aufgaben.
Himmler ging es »im vierten Kriegsjahr« um etwas anderes. Es galt, den knapp 100 vor ihm sitzenden SS-Führern einen Überblick über die Gesamtlage zu geben, Unsicherheiten auszuräumen, die Zuhörenden zu motivieren, sie und die anderen Deutschen zu »erziehen« (Himmlers Lieblingsverb) und Zuversicht zu verbreiten. Zu diesem Zweck ging er einen vorbereiteten »Problemzettel« durch und zwar in freier Rede. Damit auch ja alles ankommt, wurde die auf Wachsschallplatten aufgenommene Rede getreulich abgetippt und den Anwesenden später zugestellt. In derselben Reihenfolge wahrgenommen, kann man sich auch heute noch in die Zuhörenden hineinversetzen. Himmler möchte ein Beispiel als Anführer geben, schonungslos und pragmatisch die Wahrheit sagen, Schwächen, Fehler und Stärken benennen, viele Einzelprobleme bewerten und gewichten. Vor den zuhörenden Pragmatikern des Terrors, die den Reichsführer höflich mit Schlussapplaus bedenken, aber außer Hüsteln und Stühlerutschen keine akustische Regung, auch keine spontane Zustimmung zeigen, war dies sowohl möglich als auch nötig. Aber Himmler versagt. Er begeht rhetorische Selbstvernichtung, insbesondere entgleiten ihm seine Beispiele. Es gelingt ihm nicht, stringente Argumentationen aufzubauen. Die müssten sich zwingend mit den militärisch-politischen Realitäten beschäftigen, so wie die Zuhörenden sie kennen und zwar in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich sogar detailliert kennen. Aber Himmler zeigt keine Autorität. Er weicht über weite Passagen in andere Ebenen aus – sowohl in kleinkrämerische Nichtigkeiten als auch in abgehobene Zukunftsvisionen. Er ist fakten- und zahlenunsicher und widerspricht sich fortwährend selbst. Es ist »schade«, dass man das Gebiet jenseits des Don habe räumen müssen und dann ist es gleich auch schon wieder »gut«. Das gleiche gilt für Süditalien, den Zusammenbruch des Duce-Regimes und vorausschauend auch schon mal für weitere »Landungen«. Rückzüge werden zu »Räumungen« und »Linienverkürzungen«, Partisanenanschläge zu Viehdiebstählen.
Die Selbstinszenierung als fleißiger Bürokrat löst sich auf und man beginnt zu erkennen, dass Himmler außer dem verschriftlichten Problemzettel offenbar noch einen anderen, einen inneren und wahren Problemzettel hat. Auf dem steht in Großbuchstaben »DER RUSSE« und »STRAFE«. Der Russe ist es, mit dem er sich am längsten und am stärksten beschäftigt. Er sucht nach Erklärungen dafür, dass der ach so minderwertige Russe immer noch durchhält, nein zu einer wachsenden Bedrohung wird. Bei einer Niederlage steht für sie alle der Tod bereit. Daran erinnert Himmler seine Kumpane, denn sie alle wissen ja, wie er ihnen ausdrücklich aufzeigt, wie es ist, »wenn 1000 Leichen beisammen liegen«, nämlich Tausende ermordete Jüdinnen und Juden. Die Gemeinschaft im Morden hat dann auch wirklich bis zum Schluss gehalten. Diesen Erfolg hatte Himmler.
Der Zusammenschnitt der »Posener Reden«: https://www.youtube.com/watch?v=CXLRD_NfFpY
Die Passage zum Judenmord: