Eva.stories

geschrieben von Thomas Willms

20. Juli 2019

Geschichtsvermittlung per Instagram

Dass die Lebensgeschichte eines ermordeten jüdischen Mädchens ausgerechnet zu einer Instagram-Story verarbeitet wird, ruft zunächst instinktiv Abwehr hervor. Diese vor allem bei sehr jungen Menschen beliebte Social-Media-Plattform steht schließlich, wie kaum eine andere, für die Kommerzialisierung der Kommunikation, gipfelnd in dem atemberaubenden neuen Beruf des »Influencers«. »Stories« auf Instagram werden zudem routinemäßig nach 24 Stunden gelöscht (es sei denn, sie werden als »Highlight« definiert) was als künstliche Verknappung des Gutes heftige Suchteffekte bei Followern auslösen kann. Gerade diese technische Plattform, die mit eigenen ästhetischen Prinzipien, Nutzererwartungen- und -gewohnheiten verbunden ist, nutzte der israelische High-Tech-Unternehmer Matti Kochavi, um die Geschichte des ungarischen Mädchens Eva Heyman neu zu erzählen, schwerpunktmäßig für die Zielgruppe israelische Teenager.

Kochavi ist Initiator, Finanzier, auch Regisseur und ließ sogar Plakate für das Projekt an den Straßen aufhängen. Seine politischen, künstlerischen und ethischen Risiken sind enorm. Es beginnt schon damit, dass er sich auf dem gleichen Feld bewegt, wie die staatlich-israelische Erinnerungskultur mit ihrem klaren identitätspolitischen Auftrag gegenüber Heranwachsenden. Zum anderen ist das Werk völlig neuartig. Mit aller Macht wirft sich »Eva.stories« an die 16jährigen heran und will sie bei ihrem liebsten Gerät packen, dem Smartphone. Was wäre gewesen, hätte Eva auch eines gehabt? Was hätte sie gefilmt? – auf der Straße, aus dem Fenster, durch halbgeschlossene Türen? Das Ergebnis ist eine für das Handy-Format optimierte, mit Emoticons und anderen grafischen Elementen bearbeitete Reihe von Kurzfilmen, die so tun, als wären sie eine von Eva von Februar bis Mai 1944 gepostete Instagram-Story, endend mit ihrer Deportation nach Auschwitz.

Ágnes Zsolt: Das rote Fahrrad, Nischen-Verlag, 160 Seiten 19,90 €

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Das heute wieder rechtsradikale Ungarn will man lieber nicht an seine faschistische genozidale Vergangenheit erinnern, wie u.a. am Umgang mit Sprache festzumachen ist. Evas Lebensort war Nagyvárad, das ab 1945 wieder rumänische Oradea, das zu Evas Unglück 1940 von den Deutschen Ungarn zugeschustert wurde. Ungarisch hört man in Eva.stories kein Wort. Evas Katastrophe fand aber in ihrer eigenen Muttersprache statt, denn es waren ungarische Gendarmen, nicht wie im Film Wehrmachtssoldaten, die die jüdische Welt Ungarns in rasender Eile zerschlugen, bevor die Alliierten siegen konnten. Kochavi weicht aber nicht auf das Hebräische aus, sondern auf ein teilweise hebräisch untertiteltes Teenager-Englisch, das insbesondere die englische Hauptdarstellerin mit hebräischem Akzent spricht. Gar nicht erst untertitelt wird das schauerliche Gebell der Täter – die im Prinzip richtige, aber im konkreten Fall falsch eingesetzte, deutsche Sprache.

Darf man all das machen? Man darf, denn was Kochavi geschaffen hat, ist ein Kunstwerk. Mögen – oder ertragen können – muss man die wackligen Clips nicht. Aber sie eröffnen die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie Eva die Ereignisse ihres Lebens spontan und impulsiv wahrgenommen und bewertet haben könnte. Das macht Angst, denn die Filmclips lösen Ordnung auf. Doch Eva.stories kann seine Möglichkeiten nicht ausreizen, denn dann wäre es nicht mehr schaubar. Und so wird das, was das audiovisuelle Äquivalent der Lyrik sein könnte, zu einem Briefroman, in dem der scheinbar spontane Ausdruck nur Mittel in einem Erzählplan ist.

Mit der wahren Eva Heyman, die an dem Tag, an dem die Allierten in der Normandie landeten, in den Zug nach Auschwitz gezwungen und dort am 17. Oktober 1944 vergast wurde, hat die künstlerische Figur der Eva.stories nur sehr bedingt zu tun. Anders als bei Anne Frank, mit der Eva Heyman öfter verglichen wird, gibt es keine authentischen Texte von ihr. Das Tagebuch der Eva Heyman existiert nicht mehr, aller Wahrscheinlichkeit nach hat es ihre Mutter vernichtet. Das Eva.stories zugrundeliegende Buch »Das Rote Fahrrad« – das sogenannte Tagebuch – ist nicht ohne Grund unter dem Namen ihrer Mutter, Ágnes Zsolt, veröffentlicht worden. Ob und inwieweit sie (vielleicht auch mit Hilfestellung von Evas Stiefvater, dem bedeutenden ungarischen Autor, Bela Zsolt), von grauenhaften Schuldgefühlen gezeichnet und in den Selbstmord getrieben, den Originaltext bearbeitet oder einen neuen geschrieben hat, ist umstritten und wohl nicht mehr zu klären. Das einfühlsame Nachwort der Buchausgabe verweist auf die schwierige Familiensituation, in der es für die im öffentlichen Leben stehenden Eltern Wichtigeres gab, als sich um ihre Tochter zu kümmern. Wahr ist, dass das einsame Kind an seinem 13. Geburtstag ein Tagebuch geschenkt bekam und sich das Schlüsselchen an einer Kette um den Hals hing.