»Zwielichtige Form«
12. August 2019
Antwort auf Erika Klantz′ Deutung des »Widerstandsrechts« (antifa 05/19)
Zwielichtiges, notstandsgesetzliches »Widerstandsrecht« – gegen wen?
Erika Klantz interpretiert Art. 20 Abs. 4 GG als späte »Reaktion auf die Machtübertragung an die Nazis«. Sie bindet den Absatz zugleich korrekt an seinen realen Ursprung: die 1968 unter der Ägide des Ex-Nazi Kiesinger verabschiedeten Notstandsgesetze, die den Passus als eine Art Postskriptum an den Artikel fügten, der die Bundesrepublik als sozialen und demokratischen Rechtsstaat definiert. Abs. 4 gewährt, so Erika Klantz, allen Deutschen »das Recht zum Widerstand gegen denjenigen […], der es unternimmt, diese Ordnung beseitigen«. Die Stärke und die Breite der von der VVN, den Gewerkschaften und somit auch von Teilen der Sozialdemokratie unterstützten Bewegung gegen die Notstandsgesetzgebung machten seinerzeit Konzessionen der damaligen Großen Koalition notwendig. Art. 20 Abs. 4 ist zwar ein solches Zugeständnis. Es ist laut Wolfgang Abendroth jedoch »in zwielichtiger Form« erfolgt und stellt bestenfalls ein rhetorisches Entgegenkommen dar, das seine eigentliche Intention kaum verbergen kann.
Der Widerstandskämpfer Wolfgang Abendroth, der in der letzten Ausgabe unserer Zeitschrift ausführlich zu Wort kam, hätte sich entschieden dagegen gewehrt, Art. 20 Abs. 4 eine »antifaschistische Intention« zu unterstellen. Er vertrat eindeutig eine andere Verfassungsinterpretation als Erika Klantz. Abendroth wies ausdrücklich auf folgende mit Art. 20 Abs. 4 verbundene Gefahren hin, die heute noch stärker als vor 50 Jahren ins Gewicht fallen müssen: Der Absatz sieht vor, dass Widerstand »[g]egen jeden« zulässig sein soll. Das auf diese Weise kodifizierte »Widerstandsrecht« kann also angesichts einer solchen Unbestimmtheit in das Gegenteil von dem verkehrt werden, was Erika Klantz vorschwebt, da es »auch der Obrigkeit eingeräumt« wird und somit potentiell »einer verfassungswidrig handelnden Exekutive […] als ‚Schutzbehauptung‘« zur Verfügung stünde: eine »völlige Pervertierung des Widerstandsrechts«, wie es unmissverständlich in Abendroths zeitgenössischer Kritik heißt.
Antifaschistinnen und Antifaschisten müssen sich bewusst machen, dass Abs. 4 das »aggressive Vorgehen« gegen die Kräfte der demokratischen Opposition legitimieren kann. Da Abs. 4 die Notstandsverfassung – und nicht den demokratischen und sozialen Rechtsstaat – »zu schützen bestimmt ist, kann der durch diese Norm legalisierte Widerstand sich konsequenterweise nur gegen den richten, der diese Notstandsverfassung nicht als verbindlich anerkennt.« Das Ergebnis ist nicht antifaschistischer Widerstand, sondern antidemokratische Subversion.
Widerstandspflicht: Verteidigung und Weiterentwicklung der Demokratie
Erika Klantz ruft als angebliche »Vorbilder« von Art. 20 Abs. 4 GG die »hessischen und bremischen Landesverfassungen der ersten Nachkriegsjahre« an, »die sogar eine Pflicht zum Widerstand vorsehen.« Hierbei entgeht der Autorin jedoch ein entscheidender Unterschied zur Notstandsverfassung: Nicht der von der Obrigkeit induzierte Pseudo-Widerstand, der sich gegen die Kräfte des demokratischen und sozialen Fortschritts richtet, sondern ausdrücklich der »Widerstand gegen verfassungswidrig ausgeübte öffentliche Gewalt«, wie es in der hessischen Verfassung heißt, ist die Maßgabe der entsprechenden Dokumente. Sie rufen zum Widerstand gegen einen Machtmissbrauch auf, »dessen Träger oder Initiator der Inhaber der staatlichen Gewalt« ist. Man richtet den Blick also argwöhnisch auf die politisch Herrschenden, denen man aus gutem Grund hinsichtlich ihrer demokratischen Zuverlässigkeit misstraut.
Das heißt, um erneut mit Abendroth zu sprechen: »Demokratie beruht auf der ständigen Bereitschaft der demokratischen Kräfte des Volkes, sie zu schützen. Diese Bereitschaft im Ernstfall in demokratischen Massenaktionen praktisch zu zeigen, bleibt der geschichtliche Auftrag der […] Arbeiterklasse und aller anderen demokratischen Kräfte des Volkes […].« An den genannten Kräften liegt es, die in Art. 20 Abs. 1 bis 3 GG genannten Grundsätze als programmatischen Gestaltungsauftrag wahrzunehmen – und gegebenenfalls gegen diejenigen durchzusetzen, die sich zur Aufrechterhaltung des Status Quo oder sogar bei Kurssetzung auf gesellschaftlichen Rückschritt auf Abs. 4 zu berufen suchen. Denn auf das wahre republikanische Widerstandsrecht gegen die Ungesetzlichkeit der politisch (und ökonomisch) Herrschenden darf der tatsächliche Souverän der Demokratie niemals verzichten. Art. 20 Abs. 4 GG ist hierbei ein trügerischer Kompass, den inzwischen sogar das intellektuelle Hinterland der AfD (namentlich das »Institut für Staatspolitik«) für die eigenen Zwecke entdeckt hat. Stärker angeraten wäre eine Orientierung an den von Abendroth mit dem antifaschistischen Auftrag des Grundgesetzes untrennbar verknüpften sozialen Bestimmungen der Verfassung (Art. 14 und 15 GG), die dabei helfen können, den Faschismus an der gesellschaftlichen Wurzel zu packen.
Texte Wolfgang Abendroths zum Thema – dort auch Quellen der hier angeführten Zitate:
– Bundesverfassungsgericht und Widerstandsrecht [1955], in: Arbeiterklasse, Staat und Verfassung, Frankfurt/Main 1975, S. 75-82.
– Chancen des Grundgesetzes (gemeinsam mit Barbara Dietrich), in: Friedrich Hitzer / Reinhard Opitz (Hrsg.): Alternativen der Opposition, Köln 1969, S. 87-104.
– Das Grundgesetz – sein antifaschistischer und sozialer Auftrag, in: Der antifaschistische Auftrag des Grundgesetzes. Eine Waffe der Demokraten. Antifaschistisches Arbeitsheft 11, Frankfurt/Main 1974, S. 16-21.
– Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme. 6. Auflage, Pfullingen 1976.
– Ein Leben in der Arbeiterbewegung, Frankfurt/Main 1976.
Dr. Phillip Becher ist Sozialwissenschaftler und arbeitet an der Universität Siegen. Im Herbst erscheint sein Buch »Faschismusforschung von rechts« im PapyRossa-Verlag.