Das Ende der Geschichte?

5. September 2013

Martin Schirdewan über systemimmanente Sachzwänge in neoliberalen
Zeiten

Jan.-Feb. 2011

Martin Schirdewan ist promovierter Politologe und wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundestagsabgeordneten Roland Claus. In den zurückliegenden Jahren arbeitete er als Redakteur der Monatszeitschrift Utopie kreativ und als leitender Redakteur des Magazins sacco & vanzetti.

Zur andauernden Auseinandersetzung zwischen Kapital und Demokratie hat sich bereits Albert Camus geäußert. A. Camus »Verteidigung der Freiheit. Politische Essays« (Rowohlt, Reinbek 1997).

Der dargestellte systemische Zusammenhang zwischen Eigentum und Repression fand seinen deutlichsten Ausdruck in den bekannten dystopischen Büchern von Georg Orwell »1984« (Ullstein, Frankfurt (M) 1990) und in Aldous Huxley »Schöne neue Welt« (Fischer, Frankfurt (M) 1995).

Der Essay greift Thesen auf und entwickelt diese weiter, die zum Zusammenhang von Adaptions- und Transformationsfähigkeit des modernen Kapitalismus u.a. von Herbert Marcuse »Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft« ( DTV, München 1994) diskutiert worden sind.

Karl R. Popper hat mit seinem Hauptwerk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« mögliche Bedrohungsszenarien für die Demokratie dargestellt, die sich in erster Linie aus der permanenten Bedrohungssituation der Blockkonfrontation speisten. Dem Gedanken der inneren Zersetzung des Systems hat er weniger Beachtung gewidmet. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks würde er der Bedrohung der Demokratie durch die gnadenlose Durchsetzung von Partialinteressen sicherlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Zumal diejenigen, die ihn am häufigsten in Stellung bringen zugleich diejenigen sind, die der offenen Gesellschaft den größten Schaden zufügen.

Von Martin Schirdewan erschien zuletzt das Buch »Links – kreuz und quer. Die Beziehungen innerhalb der europäischen Linken« (Berlin 2009).

Das Nobelpreiskomitee verlieh den Friedensnobelpreis 2010 an den chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo. Es sieht sich bei der Auswahl des Gepriesenen der Unterstützung von dessen Einsatz für Frieden, Demokratie und die Bürger- und Freiheitsrechte verpflichtet. Kurz: Das Komitee kämpft selbst mit den Mitteln der Öffentlichkeit für eine aufgeklärte, zivilisierte, friedlich-demokratisch geprägte Weltordnung. Zugleich kämpfen die politischen Vertreter derselben Welt- und Gesellschaftsordnung ihrerseits mit allen rechtstaatlichen Mitteln und einige sogar mit allen Mitteln jenseits des Rechtsstaates gegen den Wikileaks-Repräsentanten Julian Assange und dessen Plattform.

Ein Zufall? Die sprichwörtliche Einäugigkeit? Gar politische Blindheit? Natürlich nicht. Sondern eine innerhalb eines von Interessen dominierten Verhaltenskodex normale Reaktion. Systemimmanente Sachzwänge, könnte man sagen. Das gezielte Vorgehen gegen Meinungs- und Pressefreiheit, Wissensfreiheit, die Freiheit sich in einer aufgeklärten Gesellschaft ein eigenes Bild vom Agieren der – durch demokratische Voten legitimierten und ebenso wieder abzuberufenden – politischen Repräsentanten machen zu können, korreliert mit einem anderen systemimmanenten Sachzwang: der Verfeinerung des Herrschaftsapparats, der Ausdehnung der Machtmittel und der Verschärfung von überwachungsstaatlichen Mitteln als Nebenprodukt der politisch gezielt beeinflussten Pauperisierung breiter Gesellschaftsschichten in der ersten Welt. Kurz: Die Beschneidung der bürgerlichen Freiheitsrechte geht einher mit dem Ausbau des Herrschaftsapparates.

Der als Neoliberalismus bekannt gewordene gesellschaftliche Entwicklungspfad ist seit Dekaden durch die Umverteilung von unten nach oben, neue imperialistische Kriege und die fortgesetzte Aushöhlung von Sozial- und Rechtsstaatlichkeit gekennzeichnet – die erste Phase der (erneuten) Pauperisierung. Die umverteilten, an- und enteigneten Kapitalien und kapitalisierten Güter sind bekanntlich in einer gnadenlosen Überhitzung der Börsenwelt verbrannt worden. Die mögliche Konsequenz aus dem Scheitern des neoliberalen Entwicklungspfades lautete jedoch nicht, einen anderen gesellschaftlichen Entwicklungspfad – etwa hin zu einem dem Allgemeinwohl verpflichteten sozial-ökologischen Umbau – zu beschreiten, sondern gipfelte in die größtmögliche Enteignungswelle seit Menschheitsgedenken, indem Gelder aus den Haushaltsbudgets der Staaten direkt an die Banken überwiesen und damit erneut in das Börsensystem gepumpt werden. Wer das tut, der ist dazu gezwungen, zu sparen: in den geplünderten Haushalten, auf Kosten der Allgemeinheit. Damit setzt dann die zweite Phase der (erneuten) Pauperisierung ein, die nur mit weiteren rigiden Kontrollmechanismen der Betroffenen – sprich einem weiterhin verfeinerten Herrschaftsapparat – durchzusetzen sein wird. (Die Diskussionen um die Vorratsdatenspeicherung, elektronische Speichersysteme wie SWIFT und ELENA deuten in diese Richtung.)

Der Systemvorteil des Kapitalismus gegenüber dem Staatssozialismus bestand in seiner Innovationsfähigkeit, bestand darin, bislang ungeahnte Produktivkräfte freizusetzen, kreative technologische Vorsprünge zu erzielen und damit eine Wohlstandsakkumulation zu Gunsten der Allgemeinheit zu generieren. Jedem sein Auto und seinen Fernseher… Der Sozialismus scheiterte an einer solchen Zielstellung und versuchte, die vorhandenen antagonistischen gesellschaftlichen Kräfte durch einen ausgeprägten Repressionsapparat zu befrieden. Die Befriedung der Gesellschaft durch Herrschaft und Gewalt. Das Ende der Geschichte des Sozialismus kennen wir, das dadurch ausgerufene Ende der Geschichte nicht. Doch zeichnet sich ein weiteres Ende ab: Das Ende der Geschichte des Kapitalismus ist der Kapitalismus in seiner gegenwärtigen Ausprägung, die nicht mehr reformierbar scheint, selbst.

Eine gewagte These, zumal das monoteleologische Wesen des Kapitals keine Dialektik zu kennen scheint. Doch ist es dem Kapitalismus in seiner bisherigen Geschichte fortwährend gelungen, Widersprüche aufzugreifen und in seinem Sinne zu verwerten, sprich zu kapitalisieren. Kreativität, Innovation, Technologisierung sind hier nur einige Schlagworte. Doch auch der politische Widerspruch, die offen formulierten antagonistischen Positionen (68er, frühe Grüne etc.) haben zu einer fortwährenden Weiterentwicklung und Stabilisierung des Systems – sowohl im politischen als auch im real-machtpolitisch kapitalisierten Raum – geführt. Fortschritt und Widerspruch bildeten eine Einheit: Darin bestand die überlegene gesellschaftliche Dialektik des Kapitalismus gegenüber dem Staatssozialismus.

Doch diese Phase der gesellschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus scheint abgeschlossen: Während politische Widersprüche nieder regiert werden, existiert der industriell-technologische Fortschritt davon losgelöst und nur auf die Interessen des Kapitals ausgerichtet. Wie das Beispiel von Wikileaks zeigt, dient das Internet in seiner aktuellen, von Herrschaftsseite aus gewünschten Funktion der Effizienz und Effektivitätsgewinnen in Produktionsprozessen sowie als beschleunigtes Kommunikations- und Unterhaltungsmedium – damit als subtiles Herrschaftsinstrument – zugleich , es darf jedoch nicht der Verbreiterung des allgemeinen Wissens, der Kontrolle der – noch einmal: demokratisch legitimierten und wieder abzuberufenden! – politischen Herrschaft dienen.

Politische Herrschaft, auch die demokratisch legitimierte, ist interessengeleitet und hat den entsprechenden Interessen dienende Entscheidungen den Weg zu bahnen. Das Allgemeinwohl dient eher als Argument des Verschleierns des Tatsächlichen denn als politisches Handlungsprinzip. Oder wie lassen sich Milliarden erklären, die den bereits verzockten Milliarden hinterher geworfen werden, deren Ursprung wiederum in der ersten Welle der neoliberalen Pauperisiserung – also der gewaltigen neoliberalen Umverteilung von unten nach oben – zu finden ist? Ganz einfach: Mit dem noch unverblümteren Auferstehen des totgesagten Neoliberalismus, der sich in der Krise seiner Stärke und der Schwäche seiner Gegner bewusst geworden zu sein scheint und die in seinem Interesse und seiner Herrschaft dienenden politischen Vertreter die zweite Welle der Pauperisierung initiieren ließ: durch die aggressiv fortgesetzte Umverteilung von unten nach oben, um die Verluste der Spekulanten auf Kosten der Allgemeinheit auszugleichen. Der zu erwartende Widerstand der Betroffenen (siehe Griechenland, Irland, England, Frankreich etc.) gegen die reale Verschlechterung der Lebensbedingungen der breiten Mehrheit der Bevölkerung geht mit dem verschärften Abbau von Freiheits- und Bürgerrechten einher. Die systemimmanente Logik der Machterhaltung des Kapitals.

Die Verluste werden sozialisiert und die Gewinne privatisiert, während die Machtfragen nicht neu ausgehandelt werden, sondern die Gravitation der Macht sich durch die Enteignung der Masse und die Umverteilung zusätzlich zu Gunsten der Eliten verbessert hat. In erster Linie dient die aktuelle Krisenpolitik also einer Restaurierung bereits bestehender Herrschafts- und Machtbedingungen. Zugunsten des seit Ausbrechen der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise inklusive aller impliziten Krisen (Demokratiefrage, Ökologie) zwar verbal beendeten, realiter nunmehr jedoch in ausgewachsener, unverhohlener – quasi eines sich zur Kenntlichkeit veränderten – daherkommenden Neoliberalismus, seiner Eliten, seiner Steigbügelhalter und seines pervertierten Menschenbildes: homo homini lupus. So what? Eine korrupte Gesellschaft, Parvenus, Dekadenz – das kurzfristige Resultat.

On the long run hingegen wird folgendes Phänomen seine Wirkung entfalten: Aus einer systemimmanenten Logik heraus wird die gewinn- und siegbringende Zweiheit von Innovation und politisch-kulturellem Antagonismus zerbrechen, weil die politischen Maßnahmen anstelle des Prinzips Befriedung der Gesellschaft durch Teilhabe das Prinzip setzen, die Gesellschaft durch Repression zu befrieden. Die überlegene Dialektik des Kapitalismus – bezogen auf die systemkonkurrierende Variable Staatssozialismus – zerbricht als erfolgreiches Herrschaftssystem und an dessen Stelle wird gesetzt: die Dialektik von privatisierter Innovation und sozialisierter Repression. Das Ende des Staatssozialismus sah zumindest noch das Zusammenspiel von sozialisierter Innovation und sozialisierter Repression.

Das Ende der Geschichte des Kapitalismus wird der Kapitalismus selbst sein. Er wird entweder, was die unwahrscheinlichere Variante darstellt, an seinen inneren Widersprüchen und zunehmend von Wut getragenen antagonistischen gesellschaftlichen Kräften überwunden (Agonie ist hier als ein schleichender Prozess zu verstehen, der irgendwann eine ungeahnte Beschleunigung erfahren wird), oder aber – die wahrscheinlichere Variante – er trifft auf einen neuen Systemkonkurrenten. Der besser in der Lage ist, Innovationen mit allgemeinen Wohlfahrtsbedingungen zu kombinieren und die Gesellschaft durch materielle und soziale Teilhabe zu befrieden.

Das Ende der Systemwidersprüche zwischen Ost und West Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts beendete die Phase der Bipolarität der Weltordnung. Der Hegemon, die USA, verwaltet das Erbe seither denkbar schlecht und uninspiriert und sieht sich mittlerweile herausgefordert von mehreren potentiellen Konkurrenten. Mindestens eine neue bipolare, wenn nicht mulitpolare Weltordnung dürfte innerhalb der kommenden zwei Dekaden entstehen. Der Konflikt Nord-Süd-Korea als Stellvertreterkonflikt (und oder Stellvertreterkrieg?) ist Ausdruck dieser aktuellen Frontstellungen und Zuspitzungen innerhalb des Herrschafts- und Machtgefüges in den internationalen Beziehungen.

Doch welche politische Herrschaft wird entstehen, wenn das Kapital weiterhin seine Gewinne akkumuliert, indem der bisherig dominierende demokratische Charakter seiner Staatlichkeit durch das Fortschreiten der Repression entkernt wird? Die Geschichte hat einmal eine Antwort gegeben, die lautete: Faschismus.

Deshalb bleibt Antifaschismus eine dringende Aufgabe unserer Zeit. Und deshalb bleibt es eine ebenso dringende Aufgabe, politische Alternativen wie den demokratischen Sozialismus, die über den Kapitalismus hinausweisen, zu formulieren.