Flucht aus dem Geheimgefängnis
5. September 2013
Wie sich Antifaschisten in Castres selbst befreiten
Nov.-Dez. 2009
Jonny Granzow
16 septembre 1943, l’évasion de la prison de Castres
Nouvelles Éditions Loubatières, 23 Euro
Die spektakuläre Flucht aus dem Geheimgefängnis im südfranzösischen Castres gelingt am 16. September 1943. 35 politische Gefangene aus 11 Ländern retten sich vor der Verfolgung des Vichy-Regimes, das mit den Nazis kollaboriert. Vielen Gefangenen drohte die Auslieferung und damit Kerker und Tod. Jonny Granzow, langjähriger Journalist bei Radio Berlin International, hat den aufopferungsvollen Kampf der Männer und Frauen erforscht, die auch nach ihrer Selbstbefreiung die internationale Résistance gegen den Faschismus fortsetzten. Seine Dokumentation ist jetzt im französischen Verlag »Nouvelles Editions Loubatières« erschienen, Granzow hat sie in französischer Sprache verfasst.
In einem Vorwort würdigt Alain Boscus von der Universität Toulouse, dass es gerade ein Deutscher sei, der mit seiner umfassenden und spannenden Dokumentation dazu beitrage, dass die Vorgänge in Castres nicht in Vergessenheit geraten. Granzow habe die Geschichte des Gefängnisses genauestens rekonstruiert, Erlebnisberichte ausgewertet, Zeitzeugen befragt und Dokumente gesichtet, die fast 60 Jahre lang nicht zugänglich waren oder keine Beachtung gefunden hatten. Alain Boscus leitete jahrelang das Nationale Zentrum und Museum Jean Jaurès, das in Castres, der Geburtsstadt des großen Volkstribuns, unter der Präsidentschaft von Francois Mitterrand eingerichtet worden ist.
Die ersten Insassen im Geheimgefängnis waren deutsche politische Gefangene aus dem Internierungslager Vernet. Sie wurden im Oktober 1941 von den Vichy-Behörden in Castres eingeliefert. Drei Internierte – Franz Dahlem, Heinrich Rau und Siegfried Rädel – waren Reichstagsabgeordnete der KPD. Dahlem und Rau hatten in den Internationalen Brigaden in Spanien gegen Franco gekämpft. Mit ihnen war auch Richard Kirn, Mitglied des SPD-Vorstands im Saarland, inhaftiert.
Die geheime Internierung in Castres bedeutete eine tödliche Gefahr. Zwanzig Deutsche werden, wie Granzow in den Unterlagen feststellt, den deutschen Okkupanten ausgeliefert. Drei werden hingerichtet, andere kommen in KZ-Lager und Zuchthäuser. Zu den Hingerichteten gehört auch der Onkel von Jonny Granzow, der 34jährige Kurt Granzow, der als Freiwilliger die spanische Republik verteidigt hatte.
Der Ausbruch der 35 politischen Gefangenen aus elf Ländern in Castres könnte ein Drehbuch zu einem spannungsreichen Film abgeben: nach drei gescheiterten Versuchen zur Flucht, heimlich über die Gefängnismauern, entschließen sie sich zum Äussersten und Unwahrscheinlichsten – zum gewaltsamen Ausbruch. Nach einem minutiösen Plan werden die Wachen überwältigt, in Zellen eingesperrt und die Gefangenen verlassen einzeln das Gefängnistor in der Altstadt. Die Kampferfahrungen besonders der elf Interbrigadisten und die vertraulichen Kontakte zu Widerstandsgruppen außerhalb des Gefängnisses sind bestimmend für das Gelingen des Ausbruchs. Neben der organisierten Unterstützung durch Widerstandsgruppen steht auch die Hilfe vieler »einfacher« Franzosen, die den politisch Verfolgten, die durch jahrelange Haft entkräftet sind, Unterkunft gewähren und mit den knappen Lebensmitteln und Kleidung helfen.
Jonny Granzow widmet ein besonderes Kapitel zwei ungewöhnlichen Persönlichkeiten: Noémie Bouissière, eine Arbeiterin aus Castres, die er als die gute Seele der Flucht bezeichnet, weil sie unerschrocken und wie selbstverständlich Widerstandskämpfern half. Zu ihnen gehörte auch der junge Deutsche Gerhard Leo, der unter den deutschen Besatzungssoldaten Flugblätter verteilte, zum Tode verurteilt wird und nach einer dramatischen Rettung durch Einheiten der Résistance in den französischen Streitkräften des Inneren für die Befreiung Frankreichs kämpft (s.a. S.19 dieser »antifa«)
Ein zweites Porträt gilt dem zweisprachigen Dichter und Schriftsteller Rudolf Leonhard, der mit den anderen 34 politischen Gefangenen in Castres 1943 fliehen konnte – junge französische Künstler werden 2001 im früheren Gefängnis seine vertonten französischen Gedichte vortragen. Der informativen und zugleich spannenden Dokumentation fehlt jetzt nur noch eines: die deutsche Übersetzung.