Gerechtigkeit für die Opfer?

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

Bisherige Vorgänge um den NSU-Prozess geben zu Zweifeln Anlass

Mai-Juni 2013

Buchempfehlung: Semiya Simsek (mit Peter Schwarz), Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater, Rowohlt Verlag Berlin, 272 S., 18,95 Euro

Die Nachkommen und Angehörigen der von der Terrorbande Ermordeten, die sich selbst »Nationalsozialistischer Untergrund« nannte, haben nach wie vor Hoffnung, dass ihnen und den Opfern mit dem »NSU-Prozess« doch noch ein wenig Gerechtigkeit widerfährt. Dass über die Personen der Hauptangeklagten und deren vier Mitangeklagten hinaus genauer durchleuchtet wird, wie das Netzwerk hinter den NSU-Mördern aussieht, dass dessen Verzweigungen bekannt werden und die Verstrickungen des Inlandsgeheimdienstes, der sich immer noch Verfassungsschutz nennt, mit seinen V-Leuten, die helfen, braune Parteien, Gruppen und Szenen bei Kasse und aktiv zu halten.

Und dass – über das Gerede von angeblichen Ermittlungspannen hinaus – auch mehr als bisher öffentlich wird über den skandalösen Umgang mit Aktenmaterial und Beweisstücken und nicht zuletzt über Alltags-Rassismus und Ausländerfeindlichkeit in Amtsstuben von Behörden und Polizei.

Eindrucksvoll und anrührend hat über die Verdächtigungen und Schikanen, denen sich die Familien der Ermordeten ausgesetzt sahen, Semiya Simsek geschrieben, die Tochter des ersten NSU-Mordopfers, des Blumenhändlers Enver Simsek. In ihrem vor einigen Monaten erschienen Buch »Schmerzliche Heimat.« schildert sie, wie da ermittelt wurde und meint mit Blick auf den bevorstehenden Prozess: »Bald nach dem Selbstmord von Böhnhardt und Mundlos zeichnete sich ab, dass es zu einem Prozess gegen Beate Zschäpe kommen wird. Kerim und ich sprechen oft darüber, auch mit unserer Mutter. Zwar haben uns die schlimmen Erfahrungen mit den deutschen Behörden skeptisch gemacht, ob sie die Tat wirklich aufarbeiten können oder wollen, dennoch sind wir überzeugt, dass dieser Prozess wichtig ist.«

»Wir wünschen uns«, fährt sie fort, »dass der Mord an meinem Vater und die Hintergründe dieses Verbrechens endlich vollständig aufgeklärt werden. Und nach all den Jahren der Verzweiflung und der Resignation wollen wir nicht mehr tatenlos zusehen, uns nicht mehr von den Ermittlungsbehörden abfertigen lassen. Deshalb entschieden wir uns, als Nebenkläger im Prozess mitzuwirken, und suchten Anwälte, die uns vertreten werden.«

Noch deutlicher wurde mit Blick auf den da noch für den 17. April vorgesehenen Prozessauftakt die Rechtsanwältin Angelika Lex. Bei der Großdemonstration, die aus diesem Anlass in München stattfand und an der sich rund 10.000 Menschen beteiligten, sagte die Nebenklagevertreterin der Witwe des 2005 vom NSU ermordeten Theodoros Boulgarides in ihrem Redebeitrag:

»Auf diese Anklagebank gehören nicht 5 sondern 50 oder noch besser 500 Personen, die alle mitverantwortlich sind für diese Mordtaten, für diese Sprengstoffanschläge, nicht nur weil sie sie nicht verhindert haben, sondern auch weil sie nichts getan haben, um sie aufzuklären aber auch, weil sie aktiv mitgewirkt und unterstützt haben. Damit haben sie unsägliches Leid über die Angehörigen der Mordopfer und Verletzten gebracht. Die Ermittlungsbehörden haben die Angehörigen nicht als Opfer von rassistischen Gewalttaten wahrgenommen, sondern sie kriminalisiert und diffamiert. Sie wurden als Beteiligte an kriminellen Machenschaften gesehen. Nur weil im rassistischen Weltbild der Ermittler schlicht nicht vorkam, dass Menschen nicht deutscher Herkunft Opfer rassistischer Gewalt werden.«

Beim Erscheinen des Buches von Semiya Simsek war noch nicht abzusehen, welch seltsame juristische und organisatorische Kapriolen es geben würde, die schließlich den Prozessanfang weiter hinauszögern sollten. Für alle Opferfamilien war und ist dies eine ungeheure Belastung. Das Ignorieren türkischer Medien beim Rennen um die Presseplätze zum ursprünglich vorgesehenen Prozesstermin passt wiederum ins erwähnte »Weltbild«-Muster, auch wenn es unabsichtlich geschehen sein sollte. Mit dem dann auf die Prozess-Verschiebung folgenden »Münchner Lotto« (Süddeutsche Zeitung) als neue Methode für Presse-Akkreditierungen droht der Prozess schon in seinen Anfängen zur Farce zu werden.

Dies allerdings wäre verheerend. Weshalb es umso dringlicher ist, dass eine kritische Öffentlichkeit, dass wir alle das weitere Geschehen um dieses Verfahren im Auge behalten und uns einmischen. Dazu die Auschwitz-Überlebende und Ehrenvorsitzende der VVN-BdA, Esther Bejarano, in einer Grußbotschaft, die sie der Münchner Demonstration per Tonträger geschickt hatte: »Darum sagen wir, die letzten Überlebenden, die letzten Zeugen des faschistischen Terrors aus der Erfahrung unseres Lebens: Nie mehr schweigen, wegsehen, wie und wo auch immer Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit hervortreten. Erinnern heißt Handeln!«