NS-Gesundheitspolitik

geschrieben von Rainer Thiemann

5. September 2013

Der »Volkskörper« wurde für den Krieg fit gemacht

Mai-Juni 2013

In der Periode vor den großen Kriegshandlungen orientierte sich die NS-Gesundheitspolitik vorrangig an den dominierenden Bedürfnissen der expandierenden Schwer-, Rüstungs- und Investitionsgüterindustrie, die Profiteur und Unterstützer der expansionistischen Politik war. Neben dem Ziel der relativen Senkung der gesundheitlichen Reproduktionskosten durch extensive Leistungssteigerung wurde auch versucht, die Gesundheitsausgaben absolut zu senken, indem man den Gebrauch gesundheitlicher Güter stark eingeschränkte. Dies geschah durch die Öffnung der Schulmedizin hin zu volks-und naturheilkundlichen Praktiken und die Etablierung von »Heroischen Therapien«, wie Askese, Körperstählung und Konsumverzicht. Diese Strategien verlagerten die Verantwortung für die Erkrankung oder besser, für den Nichterhalt der Leistungsfähigkeit, ausschließlich auf das Individuum und garantierten eine ausgesprochene Billigmedizin.

Die volksheilkundlichen Therapieformen wurden in eine Gesundheitsvorsorge eingebettet, die neben der betriebsmedizinischen Seite auch das Freizeitverhalten strukturierte und Ratschläge für gesunde Ernährung und Kampagnen gegen Alkohol und Nikotin beinhaltete. Selbstverständlich ist es nicht faschistisch, sich vernünftig zu ernähren und mit Licht, Luft und Sonne Sport zu treiben. Das Faschistische an dieser »Neuen Deutschen Heilkunde« lag darin, wie Sie im NS-Staat eingesetzt wurde.

Die propagierten Inhalte mussten billig sein und die chemische Industrie entlasten, um deren freiwerdende Kapazitäten bei der Kriegsvorbereitung einsetzen zu können. Der Gesundheitszustand der Bevölkerung wurde nur unter dem Aspekt der verwertbaren Leistungsfähigkeit betrachtet, sowohl was die Arbeitsleistung anging, als auch unter dem Gesichtspunkt, dass man den Kampf um neuen Lebensraum mit einem »gestähltem Volkskörper« aufnehmen wollte. Langfristige Perspektive der gesamten Maßnahmen der »vorbeugenden Gesundheitsführung« war die Revision der Auseinanderentwicklung von Lebenserwartung und Leistungsperiode der Arbeiter.

Auf dem NSDAP-Parteitag des »Vierjahresplanes« 1936, als die Kriegsvorbereitungen die Planspieltische bereits verlassen hatten, formulierte der Hauptamtsleiter für Volksgesundheit: »Der Knick im Arbeiterschicksal steht zeitgemäß in keinem Verhältnis zu dem Knick im Lebensschicksal, d.h., der größte Abgang aus dem Berufsleben fällt Jahrzehnte vor dem größten Abgang durch den Tod«. Der Kampf um die Annäherung an eine Identität von Lebenserwartung und Leistungsperiode würde einen wichtigen Beitrag zur Arbeitskräftemobilisierung leisten und gleichzeitig die sozialen Kosten reduzieren (Rentenversicherung). Charakteristisch wurde daher nun der Vorrang von Präventionsmaßnahmen gegenüber der Behandlung bereits Erkrankter. Bei der Versorgung und Unterbringung von Dauerkranken in stationären Einrichtungen wurden Eigenversorgungszwang mit Lebensmitteln und Einstellung von Medikamentenlieferungen in bürokratisch unmenschlicher Manier vorangetrieben. Schnell mussten Pflegeheimleiter beweisen, dass sich die Insassen teilweise oder ganz selbst versorgten. Diese weitgehende Umorientierung der NS-Medizin führte ideologisch dazu, dass »Vorsorgemedizin« geradezu ein Gegenbegriff zur »Fürsorgemedizin« wurde.

Zumal diese »Fürsorgemedizin« in den Kampagnen der Faschisten als »marxistisch verseucht« bezeichnet wurde, die während der Weimarer Republik angeblich dazu geführt hatte, dass gerade nicht »Das Gesunde« (das im faschistischen Sinne Verwertbare), sondern »das Kranke« künstlich gezüchtet und verherrlicht worden war. Mit zunehmendem Aufrüstungstempo geriet die NS – Medizin aber in ein Dilemma, das sich ständig vergrößerte: Zwar hatte die »nationalsozialistische Revolution« die »Züchtung« von Schwachen, Kranken und Gebrechlichen eliminiert, aber die Zahl derjenigen, die zu keiner verwertbaren Leistung mehr fähig waren, stieg trotzdem fortwährend an. Zum einen stieg bedingt durch die massive Leistungsauspressung trotz Kampagnen die Zahl der Berufskrankheiten und Betriebsunfälle von 1933 bis 1939 von unter einer Million auf ca 2,3 Mio Fälle an, zum anderen war die faschistische Gesundheitspolitik aufgrund ihrer strategischen Ausrichtung erfolglos auf den Gebieten der Bekämpfung von Infektionskrankheiten, Herz-Kreislauferkrankungen und der Krebserkrankungen.

NS-Billigmedizin in Kombination mit extensiver Ausbeutung hatte den nicht gewünschten Effekt, weil die eingesparten Kosten bei den Kranken und Behinderten durch die Hintertür der Rentenversicherung und Sozialfürsorge wieder auf den Staat zukamen.

1938 wartete dann die »Neue Deutsche Heilkunde« mit einem neuen kostengünstigen Vorschlag auf, nämlich die Invalidisierten nicht in karitativer Fürsorge zu hegen und zu pflegen, sondern diese auf Leistungsfähigkeit und Gesundheit zu »trainieren«, auch wenn dadurch der »ungünstige Ausgang der Krankheit beschleunigt« werden sollte. Die Empfehlung endete mit dem Satz: »Es wird eine Entscheidung darüber herbeigeführt: entweder Leistungsfähigkeit oder natürliche Ausmerze.«