Vom Hineinwachsen

geschrieben von Ernst Antoni

5. September 2013

In den 70er-Jahren erweitert sich die VVN zum Bund der Antifaschisten

April-Mai 2012

Eine Organisation wird geboren

Die Gründungen der VVN erfolgten – entsprechend der alliierten Vorstellungen – zuerst auf Kreis- und Landesebene. Als erste Organisation wurde am 26. Juni 1945 in Stuttgart die »Vereinigung der politischen Gefangenen und Verfolgten des Nazi-Systems« zugelassen, im September folgte in Hamburg das »Komitee ehemaliger politischer Gefangener« und in Kassel der »Bund ehemaliger politischer Gefangener«.

Hieraus entstand 1946/47 die »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes«. Im März 1946 traf sich die erste Landeskonferenz der politisch Verfolgten Württemberg-Badens. Mitte Juli 1946 wurde auf einer Interzonalen Konferenz in Frankfurt/M. beschlossen, Landesvereinigungen der VVN aufzubauen. Am 26.10.1946 konstituierte sich die VVN Nordrhein-Westfalen. Am 26.01.1947 gründete sich VVN Bayern. im Februar 1947 folgten die VVN Pfalz, die VVN Hamburg, die VVN Hessen und am 22./23.02.1947 die Gründungsversammlung der VVN für die sowjetische Zone.

1975 erwies sich als gutes Jahr, dieser VVN-BdA beizutreten. Sanft gedrängt von einer älteren Kameradin – weil ich, 1946 geboren, ja schließlich aus einer Familie mit Verfolgungs- und Widerstandshintergrund käme, wo solch eine Mitgliedschaft eigentlich selbstverständlich sein sollte – hatte ich schließlich nachgegeben.

Ganz so selbstverständlich schien mir das nicht – hatte ich doch gemeint, mit meinen parteipolitischen und gewerkschaftlichen Aktivitäten ohnehin aktiv mein Teil beizutragen für eine menschlichere Gesellschaft ohne Faschismus und Krieg. Dies gerne auch an der Seite der VVN – aber unbedingt Mitglied werden? Noch dazu, wo die Altvorderen eh drin waren.

Im Mai 1975 fand dann ein VVN-Bundeskongress im hessischen Offenbach statt und es erging mir wie vielen frisch Eingetretenen: kaum dabei und schon Delegierter. Spätestens beim Bericht der Mandatsprüfungskommission wurde deutlich, warum: Unter den 346 Delegierten aus allen Bundesländern hieß es stolz, seien erstmals beinahe ein Drittel, genau 104, jünger als 30. Eine schöne Bilanz für das wenige Jahre zuvor begonnene Bemühen, mit der Erweiterung der Verfolgtenorganisation zum Bund der Antifaschisten neue, jüngere Mitglieder zu gewinnen.

Zumindest in meinem bayerischen Umfeld waren die wenigsten davon übrigens Nachkommen von Widerstandskämpfern und NS-Verfolgten. Für die war ja schon vor dem Erweiterungsbeschluss ein Beitritt möglich und einige hatten irgendwann diesen Schritt vollzogen. Die meisten der Neuen kamen aus der Gewerkschaftsjugend und anderen Jugend- oder Studentengruppen, die seit Mitte der 60er-Jahre zunehmend aktiv geworden waren gegen Demokratieabbau und Notstandsgesetze, gegen den Krieg in Vietnam, gegen die neue Nazipartei NPD, die bereits in mehreren Landesparlamenten vertreten war und deren Einzug in den Bundestag 1969 durch nicht zuletzt von der VVN initiierte Aktionen und Demonstrationen verhindert wurde.

Für die Jüngeren war beim VVN-Kongress 1975 das »Rahmenprogramm« besonders beeindruckend. Delegierte und Gäste begaben sich für einen Tag auf den Römer im benachbarten Frankfurt am Main. Angeschoben von VVN und FIR hatten zahlreiche Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu einer internationalen Manifestation aufgerufen: »30 Jahre Befreiung vom Hitler-Faschismus – 30 Jahre Kampf um ein Europa des Friedens.«

Gefordert wurden unter anderem die »Fortführung der Politik der Entspannung und der Friedenssicherung« und ein »Rüstungsstopp«, protestiert wurde »gegen jede weitere Einschränkung staatsbürgerlicher Rechte«. Von »demokratischer Kontrolle der Macht der nationalen und multinationalen Konzerne« war die Rede und von »Demokratisierung aller gesellschaftlichen Lebensbereiche«. Die knapp 400 Delegierten und Gäste des VVN-Bundeskongresses staunten selbst nicht wenig, als sich rund 40.000 Menschen auf dem Platz in Frankfurt drängten, um mit ihnen dafür zu demonstrieren.

Mein »Hineinwachsen« in die VVN-BdA jedenfalls begann mit diesem Bundeskongress, mit den Diskussionen, die dort quer durch die Generationen geführt wurden und mit der Kundgebung in Frankfurt. Der familiäre Hintergrund, das Aufwachsen unter »Zeitzeugen«, wie sie heute heißen, mag da schon vorher einiges angestoßen habe. Begeistert aber war ich, wie eigentlich alle Jüngeren, die damals in die VVN-BdA eintraten, ganz gleich aus welchen Elternhäusern sie kamen, vom ungebrochene Mut, dem Wissen und der Phantasie der Verfolgten des Naziregimes, die sie allen Widrigkeiten zum Trotz noch immer weiterkämpfen ließen. Und von jenem partei- und weltanschauungsübergreifenden antifaschistischen Konsens nach der Befreiung vom Faschismus, auf den sie sich beriefen.

Gelegenheiten dazu gab es viele in jenen Jahren. Die DVU versuchte als ultrarechte Bündnisorganisation Boden zu machen, mit der »Aktion Widerstand« entwickelten die Nazis zunehmende Militanz und orientierten auf eine Mobilisierung von rechts gegen die »Ostverträge«. Bis in die 80er-Jahre hielt die Waffen-SS-Organisation HIAG landauf landab ihre Treffen ab und wurde von örtlichen Honoratioren und Hoteliers gehätschelt. Die geduldige Aufklärungsarbeit der VVN-BdA über die SS-Veteranen, verbunden mit eindrucksvollen Protestaktionen zeitigte schließlich beachtliche Wirkung.

Internationale Solidarität war gefordert: gegen alte und neue faschistische Regimes in Spanien, Portugal, Griechenland, Chile. Für Frieden, Völkerverständigung und Abrüstung wurde geworben und demonstriert. Gelesen wurde und debattiert: Die regionalgeschichtlichen Dokumentationen der »Bibliothek des Widerstands« aus dem VVN-nahen Röderberg Verlag und anderen Publikationen, Ausstellungen über Widerstand und Verfolgung, Kulturveransaltungen mit internationalen Interpreten und heimischen Gruppen setzten Zeichen.