Was vor sich ging

geschrieben von Thomas Willms

5. September 2013

»Kamp«: Ein bestürzendes Dokumentar-Puppenspiel

Juli-Aug. 2012

»Kamp« von Hotel Modern:

www.hotelmodern.nl,

Premiere in 2005

Wassilij Grossmann: Die Hölle von Treblinka, Moskau 1946

Alexander Werth, Russland im Krieg, 1965

Als der britische Journalist Alexander Werth im August 1944 das wenige Wochen zuvor befreite Lager Majdanek besuchte, musste er sich danach weiße Menschenasche von den Schuhen klopfen. Seine Reportage wollte die BBC nicht senden, man hielt sie – acht Monate bevor britische Truppen Bergen-Belsen befreiten – für unglaubwürdig. Werth schrieb später über diesen Besuch, dass Majdanek zunächst eigentlich gar nicht so besonders ausgesehen hätte: Stacheldraht, Baracken und Betongebäude waren so ungewöhnlich nicht. Selbst er hatte bereits Schwierigkeiten, sich diesen Ort als den, der er gewesen war, vorzustellen. Es gab die Abläufe nicht mehr, die Funktionen, die Majdanek erst zur Vernichtungsstätte Majdanek machten.

Auf diesen Vorstellungsschwierigkeiten basiert die Argumentation der Zweifelsäer, der Auschwitz-leugner (»So kann es doch gar nicht gewesen sein…«), deren große Zeit wohl erst noch kommt.

Die Abläufe in einem Vernichtungslager stehen im Mittelpunkt des Stückes »Kamp« der niederländischen Künstlergruppe »Hotel Modern«. Es bewertet nicht und ordnet nicht ein, sondern zeigt ausschließlich, was vor sich ging. »Kamp« ist ein Kunstwerk über Auschwitz, das nur insofern Rücksicht auf die Gefühle von Überlebenden oder ihrer nahen Angehörigen nimmt, als dass Personen nur als Puppen vorkommen. Es schließt die Perspektive der »eigentlichen Zeugen« im Sinne Primo Levis mit ein, also der in den Gaskammern Ermordeten, deren Zeugenaussagen nicht existieren und nicht existieren können.

Wer eine Aufführung besucht, sieht auf der Bühne als erstes ein riesiges Modell des KZ Auschwitz, bei genauerem Hinsehen ein Amalgam aus Stammlager und Birkenau. Vorgetäuschte »Authentizität« wie im Film (z.B. »Schindlers Liste«) gibt es nicht, nur Pappe, Knetmasse, Schnüre, Draht und Farbe. Die Züge der etwa 3.000 fingergroßen Puppen sind handgefertigt. Wirklich individuell sind sie aber nicht. Sie erinnern an die ausgemergelten Gesichter, die man von vielen Fotos aus den Lagern kurz nach der Befreiung kennt.

Die drei Künstler erwecken dieses Lager zum Leben, indem sie sich wie Gulliver im Lande Liliput darin bewegen und mit den kleinen Puppen hantieren. Die meisten von ihnen sind auf Platten montiert, andere sind für die Ausübung von Funktionen vorbereitet. Die einen laufen, essen, schuften, sterben und verbrennen, die anderen saufen, bewachen, schlagen und töten.

Als Zuschauer kann man sich aussuchen, ob man den Künstlern oder den Puppen zusieht oder – und das ist die dritte Ebene, die »Kamp« so verstörend macht – den per Minikamera live auf eine Leinwand übertragenen Bildern der Puppen.

Es sind entweder lange Kamerafahrten über die Reihen der Figuren oder Aufnahmen vom Leben und Sterben im Lager. Alles wird ohne Worte dargestellt, aber mit überdeutlichen Geräuschen: dem Kratzen der Löffel im Napf, dem Scharren der Waggontüren oder dem Rieseln der Giftgaskristalle.

Die Beobachtungen aus dem »Betrieb« folgen keiner erkennbaren Choreographie. Die Künstler können überall ins Detail gehen, indem sie sich mit ihrer Kamera herunterbeugen, kleine Lampen anschalten, mal ein Dach abheben, einen Zug schieben oder Puppen mit Drähten bewegen. Die zittrigen Bilder erinnern an Handykamera-Fotos aus Kriegsgebieten.

Die Inszenierung ist bestürzend. In der erlebten Aufführung in Krakau krakeelten 500 Teenager einige Minuten lang bis langsam klar wurde, was da eigentlich zu sehen ist. Viele umringten nachher die Bühne. Vergessen kann man die Gefangenenpüppis in ihrer Künstlichkeit und Zerbrechlichkeit nicht mehr. Die kleinen Handpuppen sind dem Kinderspiel viel zu nahe. Man möchte sie den Künstlern am liebsten wegnehmen und in ein normales Puppenhaus setzen.

»Kamp« zeigt, wie einfach das Vernichtungslager funktionierte und das in einer Klarheit, die seinesgleichen sucht. »Kamp« zeigt also einerseits viel mehr als gewohnt. Andererseits sagt es nichts über die Ursachen aus, was kein Problem wäre, würden andere Bildungsangebote vermitteln wie die Lager in den deutschen imperialistischen Krieg eingebunden waren. Genau das geschieht aber zunehmend nicht. Man kann heute KZ-Gedenkstätten verlassen ohne einmal das Wort Krieg gehört zu haben.

Im gleichen Monat wie Alexander Werth, ebenfalls im August 1944, besuchte der sowjetische Schriftsteller Wassilij Grossmann das Gelände des Vernichtungslagers Treblinka und schrieb – nachdem er über die »grundlose, schwammige Erde« gewankt war – eine Reportage, die zu ähnlichen Schlüssen kam wie »Kamp«, nämlich: So kompliziert war das alles nicht.

Oder in seinen Worten »Wir müssen eingedenk sein, dass der Rassenwahn, der Faschismus aus diesem Krieg nicht nur den bitteren Geschmack der Niederlage davonträgt, sondern auch die süße Erinnerung, wie leicht der Massenmord gelingt.«

Sowohl Werth als auch Grossmann machten in ihren Texten Anläufe, sich vorzustellen , was in den Menschen vor sich ging, hinter denen sich die Türen der Gaskammern schlossen. »Kamp« zeigt wie es aussah.