Acht – Zwei – Vier

geschrieben von Rainer Komers

5. September 2013

Erinnerungen an den Aufstand von Sobibór

März-April 2013

»Toivi« Blatt : Nur die Schatten bleiben. Der Aufstand im Vernichtungslager Sobibór. Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Aufbau, Berlin 2000, ISBN 3-7466-8068-9.

Sobibór. Der vergessene Aufstand. Bericht eines Überlebenden. Unrast, Hamburg 2004, ISBN 3-89771-813-8.

Und der Film von Peter Nestler: Die Verwandlung des guten Nachbarn

Drehbuch: Peter Nestler

Kamera: Peter Nestler, Rainer Komers, Rainer Hartleb

Darsteller: Thomas «Toivi» Blatt

Produktion: Kintopp HB Solbergsvägen 14, Pl. 5 19457 Upplands Väsby, Schweden T 8 5908 339 pene@spray.se, Weltvertrieb: Kintopp HB Solbergsvägen 14, Pl. 5 19457 Upplands Väsby, Schweden T 8 5908 339 pene@spray.se, OF, Farbe, 85 Minuten

Es fällt mir schwer, Dinge wegzuwerfen. Deshalb habe ich schon vor geraumer Zeit eine Garage angemietet, um dort vom Aktenordner bis zum Zelt alles aufzubewahren, was mir noch verwendbar erscheint, darunter einen zwanzig Jahre alten blauen Plastikkoffer der Marke »Delsey«. Vor acht Jahren benutzte ich ihn bei einem Umzug und lagerte ihn samt Inhalt in der Garage. Aus mir unerfindlichen Gründen spielte ich vor einigen Monaten an dem Zahlenschloss herum und verstellte es. Ebenfalls ohne Grund transportierte ich ihn in mein Atelier und stellte ihn neben ein Kunstobjekt, das an die Deportation des Malers und Karikaturisten Hermann Haber nach Auschwitz erinnert.

Nach durchzechter Silvesternacht mit Freunden, die wir mit Bleigießen zu verkürzen suchten‘ stolperte ich erneut über den Koffer, auf dem sich in den Garagenjahren eine dicke Staubschicht gebildet hatte. Vergeblich versuchte ich, durch Drehen an den Zahlenrädchen das Schloss zu öffnen und verwarf den Gedanken, meine Tochter nach dem Code zu fragen. Stattdessen nahm ich einen dicken, grünen Schraubenzieher, hebelte den Plastikriegel gewaltsam auf und konnte den Koffer aufklappen. Schwere Filmdosen mit Schnittresten von einem Alaska-Dreh kamen zum Vorschein. Und dann war da noch ein schmaler Band mit dem Titel »Sobibór – The Forgotten Revolt«. Sobibór war ein Vernichtungslager im Raum Lublin, wo bis zu 250 000 Juden ermordet wurden – darunter auch die Familie von Thomas Toivi Blatt, der den Bericht verfasst hat und heute in Seattle lebt.

Am 14. Oktober 1943 gelang es einer Widerstandsgruppe im Lager, der auch der 15-jährige Toivi angehörte, zwanzig SS- und Wachmänner zu überrumpeln, zu töten und anschließend durch den Stacheldrahtzaun und über einen Minengürtel in die angrenzenden Wälder zu flüchten. Die Mehrheit der 550 Lagerinsassen hatte sich der Revolte angeschlossen. 53 von ihnen überlebten den verlustreichen Ausbruch und das Kriegsende. Ich nahm das einfach ausgestattete, schwarz-weiß gedruckte Büchlein in die Hand, blätterte es auf und durch, betrachtete immer wieder die Seiten mit den Fotos von Ausbrechern und Tätern und fing an zu lesen: von der »Aktion Reinhardt«, der Ermordung von zwei Millionen polnischer Juden, von der Widerstandsgruppe unter dem Kommando des Rotarmisten Alexander (Sascha) Pechersky, von der Vorbereitung und Durchführung der minutiös geplanten Revolte am 14. Oktober und von dem Interview, das Toivi Blatt 1983 mit einem seiner Peiniger, dem ehemaligen SS-Oberscharführer Kurt Frenzel geführt hatte.

Vor zehn Jahren haben der Filmregisseur Peter Nestler und ich Toivi Blatt auf seiner jährlichen Polenreise mit der Kamera begleitet. Toivi stammt aus dem Schtetl Izbica, wohin Tausende aus Westpolen und anderen Regionen vertriebene Juden zwangsumgesiedelt wurden. Im April 1943 wurde Toivi von der lokalen SS verhaftet und zusammen mit seinen Angehörigen in einem Güterzug abtransportiert. Als er an der Rampe von Sobibór aus dem Waggon stieg, entdeckte er am Himmel zwei Wolken und dachte: »Vielleicht sehen wir uns nie wieder.« Und zu seiner Mutter hat er noch gesagt: »Und ich durfte gestern die Milch nicht austrinken. Du wolltest unbedingt noch welche für heute aufheben«. Ihr diesen Vorwurf gemacht zu haben, verfolgt ihn bis heute; denn es waren die letzten Worte, die er mit der Mutter sprach.

sobibor rampe

zum letzten mal:

zwei wolken

– ein zelt

Es war ein verkaterter, verregneter 1. Januar, an dem mich die Geschichte aus dem blauen Plastikkoffer wieder einholte und überwältigte, die vor fünfzig Jahren mit der Lektüre von André Schwartz-Barts »Der letzte der Gerechten« und mit unbeantworteten Fragen an die Eltern »Was habt ihr damals gewusst oder dagegen getan?« begonnen hatte. Die Zahlenkombination übrigens, die mich zum Schraubenzieher greifen ließ, lautet 8-2-4.