Alice oder die Sintflut

geschrieben von Raimund Gaebelein

5. September 2013

Vom Weiterleben der Vergangenheit im Heute

Mai-Juni 2007

Jutta Mülich, Alice oder die Sintflut, ein Dorfroman, 383 S., Donat Verlag, Bremen 2007, ISBN 3-938275-20.0

‚Liebes Fräulein, lassen sie es gut sein. Machen sie sich nicht unglücklich.‘ Die Warnung des alten Herrn hätte Alice Goldberg kaum für denkbar gehalten, als sie in Bremen umsteigt. Eine Gruppe glatzköpfiger Bestiefelter versucht eine Gruppe Fußballfans zu provozieren. Die junge Frau aus München fährt ins norddeutsche Tiefland, um die Spuren ihrer verstorbenen Großmutter zu finden. Eine frisch gekaufte Tageszeitung enthüllt eine Todesanzeige für einen Kameraden Heinrich Schierling. Die Opfer eines Brandanschlags auf ein Asylbewerberheim schweben nicht mehr in Lebensgefahr. Beinahe wäre sie über ihren Koffer gestolpert. Jemand hält sie im letzten Augenblick fest. Jakob Fuchs, ihr Retter, ist Apotheker. Er kennt den Fall gut. Mit anderen besonnenen Bürgern hat er eine Gruppe von Wächtern gegründet. Feuerlöscher nennen sie sich. Zu besorgniserregend ist das Treiben der Neofaschistischen Schläger in dem Dorf, aus dem er kommt. Zufall? Es handelt sich um das Dorf, in dem Leonore Schierling lebt, die Schwester ihrer Großmutter. Die hatte einen Unfall, liegt im Krankenhaus. Schierling, ist das nicht der Name des ‚Kameraden‘, der in drei Tagen zu Grabe getragen wird? Des Hintermannes der Brandstifter? Welches Band verbindet ihre Großmutter mit solchen Leuten? Isolde hatte ihr Leben dafür eingesetzt, Alices Großvater während der NS-Zeit nach England in Sicherheit zu bringen. Alice und Jakob nehmen den Zug nach Bremerhaven. Dort erwartet sie Fanny Lang, die Wirtin des Gasthauses, in dem Alice unterkommen soll. Auch sie gehört zu den Feuerlöschern. Jakob nehmen sie gleich mit. Im Folgenden entwickelt sich eine turbulente, spannende und tiefsinnige Geschichte eines Dorfes irgendwo im Nassen Dreieck zwischen Bremerhaven, Cuxhaven und Stade. Sie ist ein Beleg dafür, dass die tiefbraune Vergangenheit weiterlebt. Heinrich Schierling war ein Gesinnungstäter. Überall war er zu finden, Mitglied in allen Vereinen. Seine Erben im engeren Sinne sind eifrig bemüht Alice Goldberg als Eindringling loszuwerden. Seine geistigen Erben versuchen das Dorf und seine Umbebung in Schach zu halten. Beides ist ineinander verwoben. Es gibt kein Mittel, vor dem sie zurückschrecken. Oder geht es um viel banalere Dinge? Unterschiebung von Beweismitteln, Brandstiftung, Entführung, versuchter Mord, das sind doch wirklich keine Belanglosigkeiten. Selbst die Ursache für den Tod Heinrich Schierlings bleibt für lange Zeit im Dunkel. Jutta Mülichs Roman beschreibt das Grauen neofaschistischer Umtriebe, die Gefühllosigkeit, die kalte Zweckrationalität und ihre mystische Versponnenheit. Gleichzeitig deutet sie auf die Kraft der Solidarität hin, mit der vier Frauen etwas bewegen und dem Spuk ein Ende machen. ‚Wer sich dennoch … wiederzuerkennen glaubt, wird hoffentlich vor sich selbst erschrecken‘, schreibt die Autorin warnend.