Ambivalente Erfahrungen

geschrieben von Ulla Plener

5. September 2013

Kinder von Widerstandskämpfern erzählen

Nov.-Dez. 2008

Eva Madelung, Joachim Scholtyseck:
Heldenkinder – Verräterkinder. Wenn die Eltern im Widerstand waren, Verlag C. H. Beck, München 2007, 308 S., 24,90 Euro

Dieses Buch enthält 15 Interviews mit Kindern von Menschen, die überwiegend aktiv, teils aber auch passiv (als Mitwisser) am Widerstand gegen das faschistische Naziregime in Deutschland beteiligt waren.

Die Auswahl der Interviewten widerspiegelt die in der heutigen Bundesrepublik übliche Konzentration auf den Widerstand aus bürgerlich-konservativen, militärischen, adligen und christlich motivierten Kreisen, vor allem im Zusammenhang mit dem 20. Juli 1944. Lediglich zwei Interviews wurden mit Kindern von Sozialdemokraten (den Töchtern von Julius Leber und Hermann Maaß) und ein einziges mit der Tochter eines Kommunisten (Friedrich August Schneiderheinze) geführt.

Die Autoren (Herausgeber) – eine Familientherapeutin und ein Historiker – verstehen die Interviews als Dokumente der Zeitgeschichte: Sie vermitteln zum einen »einen Überblick über die psychischen Zusammenhänge«, die in den betroffenen Familien vor und nach 1945 wirkten, dem Historiker bieten sie »unbekannte Erkenntnisse über den Hintergrund des Widerstands der Eltern gegen Hitler«. Und: Sie geben Auskunft über den Umgang mit dem Thema Widerstand gegen das NS-Regime im gespaltenen Deutschland der Nachkriegszeit. Heldenkinder? Verräterkinder?.

Dazu Eva Madelung in der Einleitung: »Behörden (in der alten BRD – U.Pl.) erließen Bescheide, dass ›keine staatliche Unterstützung an Verräterfamilien‹ zu zahlen sei.« (S.18) – »In der DDR waren die Mitglieder des linken Widerstands, und unter ihnen besonders die Kommunisten, offiziell besonders anerkannte Persönlichkeiten. Sie erhielten vom Staat eine Reihe von Vergünstigungen wie zusätzliche Lebensmittelkarten, vorrangig Wohnraum, besondere Bildungsmöglichkeiten für die Kinder u. a.« Wibke Bruhns, Tochter des als Mitwisser hingerichteten großbürgerlichen Unternehmers Hans Georg Klamroth, ergänzt: Die Wiedergutmachung für ihre Mutter sei in der BRD erst 1957 nach einem Prozess geregelt worden: »Es war aber gar nicht viel Geld, das sie bekam, denn er war ja kein Berufsoffizier (!). Er war selbständig. Es drehte sich also nur um die Fortzahlung seines Gehalts als Offizier. Wobei die DDR sich ja wunderbar verhalten hat. Sie hat meiner Mutter eine OdF-Rente gezahlt, 220 Mark oder so. Die Rente wurde sogar noch gezahlt, als sie im Westen war. Sie hat sie also… über mehrere Jahre (bekommen). Da hat sich offenbar in den Köpfen der real existierenden Sozialisten der Junker mit dem Antifaschisten gestritten. Und der Antifaschist hat gesiegt. Deshalb sind wir auch nicht enteignet worden.«

Eva Madelung: »In der westdeutschen Presse wurde das Verdienst der Männer des 20. Juli herabgesetzt und der linke Widerstand nicht anerkannt. Dagegen verleugnete die ostdeutsche Presse den militärischen und liberalen Widerstand.« Aufgrund der geistigen Gesamtsituation in der alten BRD hätten die Angehörigen der Männer des 20. Juli »lange Jahre über diese Tatsache geschwiegen«. Anhand eines einzigen Interviews, dem mit Petra Schneiderheinz, wird die Tatsache des »Schweigens« auch für den Osten festgestellt, was im konkreten Fall aber eher individuell bedingt war.

Auffallend ist: Kein einziges Interview wurde mit einem westdeutschen Kind eines von den Nazis verfolgten Kommunisten geführt. Warum nicht? Die Antwort kann wohl nur lauten: Weil der in Nazi-Deutschland betriebene Antikommunismus in der Bundesrepublik ungebrochen als Staatsdoktrin praktiziert wurde – und bis heute wird. Als Beispiel hier die Geschichte von Kurt Baumgarte (1912-2007) aus Hannover: 1935 von den Nazis als Mitglied der KPD verhaftet, 1936 vom »Volksgerichtshof« zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und bis 1945 in Isolationshaft im Zuchthaus Waldheim gehalten, wurde er 1965 erneut verhaftet und 1966 zu einem Jahr und zehn Monaten Gefängnis sowie drei Jahren Aberkennung bürgerlicher Ehrenrechte verurteilt. Nach in der BRD geltender Rechtsprechung stand ihm als »Wiederholungstäter« (Tätigkeit für die KPD) auch 1991 die 1957 entzogene OdF-Rente nicht zu. Begründung: »… Ein Anspruch auf Entschädigung nach dem BEG (Bundesentschädigungsgesetz) steht ihm … nicht zu. Herr Baumgarte wurde sofort nach 1945 wieder Funktionär der KPD«. Was hätten seine in Hannover lebenden Kinder geantwortet, wären auch sie, wie die anderen Interviewten, nach ihrer Erfahrung, ihren Empfindungen und Gedanken, nach der Situation ihrer Familie und ihren Lebenswegen befragt worden? Vielleicht hätte auch die Beschäftigung mit der Vergangenheit von Familien wie dieser ein Lernprozess sein können, »in dem sich persönliche Erfahrung auf eine kollektive hin erweitert«, hin auf eine Gesundung der politischen Kultur in diesem Lande?

In der DDR hatte seinerzeit »der Antifaschist über den Junker« gesiegt. Sollte nicht in der heutigen Bundesrepublik der kommunistische Widerständler über den Antikommunisten siegen und endlich auch er als Widerständler gegen das Nazi-Regime staatlich anerkannt werden? Noch im Mai 2008 fanden die von der Linksfraktion diesbezüglich eingebrachten Anträge keine Mehrheit im Bundestag.