Archiv aus dem Untergrund
5. September 2013
Das Vermächtnis des Ghetto-Historikers Emanuel Ringelblum
Nov.-Dez. 2010
Der Autor thematisiert neben zahlreichen anderen Problemen auch den damals wachsenden Antisemitismus in der Bevölkerung Polens, die Kollaboration von Polen, Balten, Ukrainern – und selbst von Juden – mit den faschistischen Besatzern im Zusammenhang mit der Ghettoisierung und Ermordung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung. Doch auch zahlreiche Beispiele selbstloser Solidarität einzelner Personen und von Teilen der polnischen Bevölkerung mit den polnischen Juden werden von Kassow aufgeführt.
Samuel D. Kassow: Ringelblums Vermächtnis: Das geheime Archiv des Warschauer Ghettos.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010,
704 Seiten ISBN 978-3-49803-547-1
39,95 Euro
Samuel D. Kassow zeichnet in seiner Studie nicht nur die Geschichte des Untergrundarchivs im Warschauer Ghetto »Oyneg Shabes« (»Freude des Schabbaths«) nach und präsentiert in diesem Zusammenhang eine Unmenge an Informationen und Quellen. Der Autor rekonstruiert in seinem Werk zudem anschaulich, einfühlsam, akribisch und so detailliert wie es auf Grundlage des vorhandenen Quellenmaterials möglich ist, das Leben und das persönliche sowie gesellschaftliche Umfeld des polnisch-jüdischen marxistischen Historikers Emanuel Ringelblum, ein Leben inmitten des Exzesses fortgesetzter Demütigung und Entrechtung, des Einkerkerns und Aushungerns, das in der Auslöschung des osteuropäischen Judentums durch Erschießungskommandos und in den Gaskammern der Konzentrationslager kulminierte.
Es hat eine Reihe von Untergrund-Archiven in den von den Deutschen besetzten Gebieten gegeben, das »Oyneg Shabes« ist jedoch das mit Abstand größte gewesen. Dieses hat auch vor allem mit dem unermüdlichen Wirken von Ringelblum zu tun. Leider ist es auf Grundlage der bislang verfügbaren Quellen nicht möglich, eine umfassende Biographie über Ringelblum zu schreiben. Ringelblum hat es nämlich wegen seiner Bescheidenheit so weit wie möglich vermieden, in den Ghettoberichten erwähnt zu werden.
Kassow verortet den politischen Standpunkt Ringelblums als in der Tradition des marxistischen Sozialismus stehend. Seine Begründung für diese Bewertung, sowie seine damit im Zusammenhang stehende Kritik an andersartigen Einschätzungen der politischen Ansichten Ringelblums, sind überzeugend.
In dem Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos ist alles gesammelt worden, was das dortige Leben dokumentieren konnte. Auf Grund dieser Materialien wurden auch Berichte für die polnische Untergrundbewegung und für die polnische Exilregierung in London geschrieben. Insbesondere der Briefwechsel des »Judenrates« mit den deutschen Behörden ist von großer Bedeutung.
Am 22. Juli 1942 beginnt die »Große Aussiedlung« der Juden aus dem Warschauer Ghetto in das Vernichtungslager Treblinka. Anfang August sichern die Mitarbeiter des Untergrundarchivs ihre Bestände. Ringelblum kann sich mit seiner Familie in den nichtjüdischen Teil Warschaus flüchten. Seine letzten Lebensmonate verbringt er mit rund 40 anderen, zusammengepfercht in dem sieben mal fünf Meter großen Keller eines Gewächshauses. Am 7. März 1944 fliegt das Versteck durch Verrat auf, Ringelblum wird nach seiner Festnahme gefoltert und dann mit seiner Familie und den polnischen Beschützern im Warschauer Pawiak-Gefängnis von Faschisten erschossen.
Nur drei von Ringelblums rund 50 Mitstreitern überleben die Verbrechen im Ghetto: die Journalistin und Schriftstellerin Rachel Aurbach, außerdem Hersh Wasser, Sekretär des Archivs, und seine Frau Bluna. Nach Kriegsende kann Hersh Wasser eine Suchmannschaft in den Ruinen des ehemaligen Warschauer Ghettos zur Grabung führen. Am 18. September 1946 entdecken Suchtrupps Teile des Archivs: 1208 Archivalien, wie Tagebücher, Aufsätze, Gedichte, Erzählungen, Verordnungen, statistische Erhebungen …, rund 35.000 Blatt – Dokumente des Lebens und Sterbens im Warschau dieser Jahre.
Im Dezember 1950 werden weitere 484 Archivalien geborgen. Von der dritten Abteilung des Archivs finden sich an anderer Stelle nur eine Anzahl halbzerstörter Blätter. Der vierte Teil mit Ringelblums letzten Arbeiten aus den Jahren 1943 und 1944 ist noch während des Krieges bei polnischen Freunden versteckt worden. Dieser Teil ist später an das »Museum der Ghettokämpfer« im Kibbuz Lochamei Hagetaot (Israel) abgegeben worden.
Kassow schildert die Entstehung und die Geschichte des Archivs im Warschauer Ghetto in beeindruckender Weise. Es gelingt ihm in seinem Werk zudem, an Hand des Schicksals von Ringelblum eine Geschichte des Judentums vor und während des Zweiten Weltkrieges in Polen zu schreiben, natürlich mit Schwerpunkt auf der Zeit des Warschauer Ghettos und seines geheimen Archivs. Dabei präsentiert er zahllose neue Informationen, die zumindest im deutschsprachigen Raum nur sehr wenigen Spezialisten bekannt sein dürften. Das betrifft nicht zuletzt die sehr komplexe und schwierige Problematik des Verhältnisses zwischen dem polnischen Judentum, der Arbeiterbewegung und dem Marxismus. Die zahlreichen Strömungen, Organisationen, Diskussionen und Auseinandersetzungen sowie Persönlichkeiten der polnischen Arbeiterbewegung sind in der Geschichtswissenschaft der BRD immer noch mehr oder weniger ein »Weißer Fleck«. Angesichts ihrer Bedeutung für den antifaschistischen Widerstandskampf ist das bedauerlich und unverständlich.
Der umfangreiche Anhang mit Anmerkungen, Bibliographie und Personenverzeichnis machen das Buch zu einer Quelle für eine vertiefende Beschäftigung mit der Thematik sowie für weitergehende Forschungen.