Ästhetik des Widerstands

geschrieben von Jens-Fietje Dwars

5. September 2013

Was bleibt? Zum 25. Todestag von Peter Weiss

Mai-Juni 2007

Jens-Fietje Dwars ist Schriftsteller, Film- und Ausstellungsmacher Koautor des Films »Der Unzugehörige. Peter Weiss« (2003) und Verfasser der Biographie »Und dennoch Hoffnung. Peter Weiss«, Aufbau-Verlag Berlin 2007, www.dwars.jetzweb.de

In den 60er-Jahren entstanden von Peter Weiss: »Abschied von den Eltern« 1961, »Fluchtpunkt« 1962 und »Das Gespräch der drei Gehenden« 1963. Sein Theaterstück über Marat und de Sade (1964) wird ein Welterfolg. 1965 erscheint »Die Ermittlung«, das bis heute ergreifendste Stück über Auschwitz. Mit dem »Lusitanischen Popanz« (1967) und seinem »Viet Nam Diskurs« (1968), Lehrstücken nach Brechtschem Vorbild, nahm Weiss Partei in der geteilten Welt: für die Schwachen, die ausgeplünderten Völker, aber auch gegen Unfreiheit im Sozialismus. Seine Antwort auf die Zerschlagung des »Prager Frühlings« war »Trotzki im Exil«, ein Stück über den Gegner Stalins.

„Was sagt uns noch Peter Weiss? Ist das linke Projekt nicht seit 25 Jahren vorbei?“ So ließ sich ein Moderator des MDR in der ARD-Hörbuchnacht zur Leipziger Buchmesse vernehmen. Sprachlos sah ich sein selbstzufriedenes Lächeln und verwies auf Homers „Odyssee“. Jeder rühme das Meisterwerk der Antike, aber wer lese es noch. Ist „Die Ästhetik des Widerstands“ nicht die „Odyssee“ des 20. Jahrhunderts? Ein Epos des Antifaschismus, von dessen Sprachkraft man sich gerade jetzt dank einer zwölfteiligen Hörbuchfassung des Bayerischen Rundfunks im Hörverlag überzeugen kann.

1916 in Nowawes, dem heutigen Neubabelsberg, als Sohn eines jüdischen Textilkaufmanns geboren, floh Peter Weiss mit seinen Eltern 1935 vor den Nazis über London und Prag nach Alingsås in Schweden. Wie Erich Fried blieb er auch nach 1945 im Exil und sah die Entwicklung in Ost und West kritisch. Als Maler, Erzähler und Filmemacher jahrzehntelang ein Außenseiter, wurde er 1960 mit seinem Roman „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ entdeckt. In jedem Jahr brachte Weiss danach ein neues Buch heraus. Doch im Westen wurde er verlacht, im Osten als Konterrevolutionär gebrandmarkt. Zerrieben zwischen den Blöcken begann er 1971 ein Stück über Hölderlin, den Visionär, der sich in bleierner Zeit in seinen Turm zurückzog. Mitten in der Arbeit brach er zusammen. Ein Herzinfarkt nötigte zur Umkehr. Literatur als Agitation greift zu kurz. Die Politik der Massendemonstrationen, die 1968 mit der Studentenrevolte die Welt zu verändern schien, bleibt an der Oberfläche. Kunst muss tiefer gehen, ohne das Politische, den Anspruch der sozialen Emanzipation, aufzugeben. Aus diesem Impuls heraus entsteht die Romantrilogie „Die Ästhetik des Widerstands“.

Fast zehn Jahre lang schrieb Weiss daran, die letzten seines Lebens. Am 5. Mai 1982 starb er, aufgezehrt von einer beispiellosen Arbeit. Diese drei Bände sind mehr als Bücher: Keine Geschichten zur Unterhaltung der Leute, um den eignen Unterhalt damit zu verdienen. Keine Silbe darin ist ausgedacht, alle Orte und Figuren sind belegt, bis ins Detail hinein historisch rekonstruiert. Ein kollektives Gedächtnis, Speicher der Erinnerungen vieler, die sich in keinem Lehrbuch der Geschichte finden.

Und zugleich ein Roman, die Verdichtung der Lebensgeschichte eines anonymen Ich-Erzählers, in dem Weiss seine eigene Biographie „aufhebt“. Selbst Bürgersohn, verleiht er seinem Erzähler eine proletarische Herkunft. Kritiker haben ihm daher eine „Wunschautobiographie“ vorgeworfen. Er dichtet sich eine antifaschistische Vita an: als Freund von Heilmann und Coppi, die mit der „Roten Kapelle“ hingerichtet wurden, als Spanienkämpfer und Botenträger im schwedischen Untergrund, der im Politischen und in der Welt der Kunst nach Orientierung sucht.

Tatsächlich stellt er erst im Nachhinein sein Ringen um Kunst in die politischen Zusammenhänge, die er damals nicht wahrnahm. Indem er seine Lebenskraft darauf verwendet, die authentischen Zusammenhänge, das Beziehungsgeflecht des Antifaschismus, die Hoffnungen, Sehnsüchte und Deformierungen im Widerstand zu rekonstruieren, wird das Politische existentiell: die vergangenen Kämpfe verbinden sich mit seinem eigenen Dasein als Außenseiter im Literaturbetrieb. Dieser Antifaschismus bietet keine Heldengeschichten, keinen Grund zum Triumph. Was in der Linken vierzig Jahre lang als ein Sieg über den Faschismus gefeiert wurde, das gibt sich im Roman als eine Kette von Niederlagen zu erkennen, in deren Verlauf die Aufrechtesten, die Mutigsten und die Sensibelsten umkamen, ermordet unter Hitler und Stalin, zerrieben zwischen den Fronten.

Eine beispiellose Trauerarbeit, die den Leser nicht schont. Und dennoch bleibt die Hoffnung, heißt es bei Weiss zuletzt, denn nichts anderes sei sie ja als die Lebenskraft selbst. Die Lebenskraft derer, deren Energien er im Augenblick ihrer Vernichtung festhält, wie in den Kunstwerken, die der Roman beschreibt: „eine Sekunde des Nochlebens … in Zeitlosigkeit“ versetzend, so dass die Kraft zum Widerstand abrufbar bleibt für die Nachgeborenen, die selbst verzweifeln möchten an einer schier unveränderbaren Welt fortgesetzter Barbarei.

Eine solche Kunst schärft die Wahrnehmungen für das hier und heute anders Mögliche, sie ermutigt und befähigt zu einer anderen Politik.