Auge und Ohr der Häftlinge

geschrieben von Hans Canjé

5. September 2013

Über die Schwierigkeiten des Gedenkens – Ein neues Buch über
Neuengamme

Mai-Juni 2009

Arbeitsgemeinschaft Neuengamme (Hg): »Das war ja kein Spaziergang im Sommer«. Die Geschichte eines Überlebendenverbandes. Erarbeitet von Michael Grill und Sabine Homan-Engel. Konkret Literatur Verlag Hamburg 2008 ca. 220 Seiten, 12 EUR

Wie sähe es heute auf dem Gelände des ehemalig größten norddeutschen Konzentrationslagers Neuengamme aus, hätten sich nicht die einstigen Insassen aus fast allen europäischen Ländern nach 1945 so vehement für ein würdiges Gedenken daran eingesetzt, was faschistischer Terror dort angerichtet hat? Wie schnell hätten die Hamburger Pfeffersäcke, die am 3. September 1938 das Gelände an die Tarnfirma der SS »Deutsche Erd- und Steinwerke« verkauften und im April 1942 noch einen Millionenkredit nachreichten, die Sprengkommandos und die Abrissbagger in Gang gesetzt, um alle Spuren des Mordregimes zu beseitigen, wären ihnen nicht gemeinsam mit den Häftlingen antifaschistische Hamburger Bürgerbewegungen in den Arm gefallen? Antworten auf diese ganz und gar nicht aus der Luft gegriffenen Fragen findet der Leser in der im Hamburger Konkret Literatur Verlag erschienen »Geschichte eines Überlebensverbandes«, der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme (AGN).

Fast auf den Tag zehn Jahre nach dem Verkauf des Geländes an die SS, wenige Wochen nachdem die britische Militärverwaltung das Gelände an die Stadt zurückgegeben hatte, wurde auf dem blutgetränkten Boden ein Gefängnis, die spätere Justizvollzugsanstalt Vierlanden, eröffnet. Später kam noch eine zweite Haftanstalt dazu. Das KZ, so hatte es ein Oberlandesgericht in einem Schreiben an den Senat formuliert, »lastet wie ein Fluch auf Hamburgs Gewissen, seiner Ehre und seinem Ruf«. Um sich des Fluches zu entledigen, »das Schandmal der Vergangenheit auszulöschen« hielt man ein Gefängnis für angebracht. Von den etwa 100 400 Menschen, die von Dezember 1938 bis Mai1945 inhaftiert waren und mehr als die Hälfte im Stammlager oder in einem der 87 Nebenlager oder während der Todesmärsche ums Leben kamen, war keine Rede.

Bei den überlebenden Häftlingen ist diese Missachtung ihres Leidens in all seinen Dimensionen gar nicht richtig zur Kenntnis genommen worden. Andere Sorgen überwogen: die um das Schicksal der Häftlinge, die Suche nach Überlebenden, die Information der Öffentlichkeit über das wahre Geschehen hintern dem elektrischen Stacheldraht. Der Kampf um Mahnmale, Erinnerungstafel und Gedenkstätten im KZ Neuengamme und seiner Außenlager begann mit dem 6. Juni 1948, dem Gründungstag der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme als Interessenvertretung ehemaliger KZ-Häftlinge in Deutschland. Sie ist seit 1958 Bestandteil der Amicale Internationale KZ Neuengamme (AIN) und versteht sich nach wie vor als »eine Stimme der Überlebenden des NS-Regimes im besten Sinne antifaschistischer Tradition«

Sabine Homann-Engel und Michael Grill zeichnen die 62jährige Geschichte der AGN, die untrennbar verbunden ist mit der Geschichte des Ringens um die Gedenkstätte in ihrer heutigen Form. »Das war kein Spaziergang im Sommer« sagt Fritz Bringmann, einer der wenigen Überlebenden des Lagers und Ehrenpräsident der AGN. Um jeden Gedenkstein musste gerungen werden, ausländischen Häftlingen wurde, wie es im September 1959 einer Delegation aus den Niederlanden geschah, der Zutritt zum Gelände verwehrt. Über Jahrzehnte mussten die Hamburger Regierenden zum Gedenken förmlich getragen werden. Diejenigen, die das »Schandmal der Vergangenheit« als ständiges Mahnmal für die Gegenwart sehen wollten, wurden jahrlang diffamiert, standen unter Beobachtung des Staatsschutzes, der da Kommunisten am Werke sah.

Von den Überlebenden sind heute nur noch wenige in der Lage, in der AGN aktiv mitzuwirken. Die AGN hat sich seit langem für jüngere Menschen geöffnet. Die 46jährige Präsidentin der Arbeitsgemeinschaft, Ulrike Jensen, die auch Generalsekretärin der AIN ist, steht für den Generationswechsel. In der Bewahrung des Gedenkens, der Erinnerung an das Schicksal der ehemaligen Häftlinge und ihres Kampfes für eine Gedenkstätte sieht sie ihre Aufgabe. Die vorliegende Chronik über den langen und steinigen Weg der AGN berechtigt zu der Hoffnung, dass hier weiter im Sinne des am 27. Januar 2009 in Berlin von den Präsidenten der Internationalen Lagergemeinschaften übergebenen Vermächtnisses die Arbeit fortgesetzt wird, um die Erinnerung und das Gedenken auch in der Zukunft zu bewahren und zu würdigen. (antifa März/April 2009, S. 23)