Befreite Sklaven

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Eine mutige Illustration der Passa-Haggada erinnert an den Holocaust

Nov.-Dez. 2010

Passa-Haggada zum Gedenken an den Holocaust, künstlerisch gestaltet von Yonah Weinrib, herausgegeben von Peter von der Osten-Sacken und Chaim Rozwaski, 119 Seiten, erschienen im Institut Kirche und Judentum 2010

Preis 23,80 Euro, e-mail-Bestellung möglich unter mail@ikj-berlin.de

Eine Aufsehen erregende erste politische Illustration der uralten jüdischen Passa-Haggada hat der Erinnerung an die Befreiung der hebräischen Sklaven aus Ägypten das Gedenken an den Holocaust hinzugefügt. Sie ist bereits 1985 in englischer Sprache erschienen. Dank der Bemühung des Institutes für Kirche und Judentum/Zentrum für christlich-jüdische Studien an der Humboldt-Universität ist sie 2010 nun auch in kompetenter Bearbeitung auf dem deutschen Büchermarkt erschienen.

Der Maler David Wander und der Kalligraph Yonah Weinrib haben es im Auftrag von Zygfryd Wolloch und seiner Frau Helen, beide Holocaust-Überlebende, erstmals vollbracht, dem Passa-Festtagstext die Erinnerung an das Verbrechen der planmäßigen Judenvernichtung durch das faschistische Deutschland eindrücklich beizufügen: Farbige Metaphern als Kaddisch für die Millionen Juden, die durch den deutschen Arierwahn zwölf Jahre lang nicht nur versklavt, sondern europaweit vorsätzlich ausgerottet wurden. Und die jahrhundertelang tradierten Lieder haben sie um drei Texte erweitert, die gegen die Flammen von Auschwitz, das Fanal faschistischer Barbarei gesungen worden sind: Das jiddische Lied »Undzer shtetl brennt« von Mordechai Gebirtig (geb. 1877), der 1942 mit Frau und Kindern ermordet wurde. Dem Lied »Ich glaube« liegt der zwölfte Glaubenssatz des mittelalterlichen Philosophen Maimonides zugrunde; schließlich ein Partisanenlied: »Sog nit keyn mal as du geyst den letzten weg« von Hirsch Glick, der 1944 nach gelungener Flucht aus dem KZ als Partisan gefallen ist.

Die jüdische Passa-Haggada ist wohl in der Geschichte des Buches das älteste Familiengebrauchsbuch, denn es wird seit mehr als 2000 Jahren weltweit ununterbrochen von jüdischen Familien am alljährlichen Sedertisch vom Vater des Hauses vorgelesen. Es geht um die Erinnerung an die von Moses organisierte Flucht der hebräischen Sklaven aus Ägypten, gegen den Willen des wortbrüchigen Pharaos (2. Mose 12,16ff). Diese Sklavenbefreiung gilt bis heute als Gründungsereignis des Volkes Israel. Es ist also kein grandioser Gründungsmythos, sondern eine verpflichtende Erfahrung, in der der Name Gottes, im ersten der zehn Gebote als Befreier festgeschrieben worden ist.

»Verweigerte Befreiung« als Unterdrückung von Menschen durch Menschen gilt seitdem als Sünde für jeden. Eine ungewöhnliche Religion, die ihren Gläubigen keine Sklavenhaltergesellschaft gestattet. Denn für die Nachfahren der aus ägyptischer Sklaverei Befreiten darf Land nicht als Privateigentum privat geraubt werden. Es ist Gemeindebesitz, der zu solidarischem Handeln und Leben herausfordert, was immer wieder zu harten Konflikten führte, aber nie widerrufen wurde. Der Sabbat (4. Gebot) als 7. Tag der Woche ist mit seinem Gebot der Arbeitsruhe- auch für das Vieh(!) – ein wöchentliches Zeichen befreiender Gerechtigkeit, die Gleichberechtigung zum Ziel hat.

Dass bei der Illustration nicht nur der brennende Judenstern, sondern auch die erstmals verbindliche Staatsflagge Israels angedeutet wird, rückt die Innen- und Außenpolitik des Staates unter die Verpflichtung befreiender Solidarität, denn die befreiten Sklaven, die zum Volk wurden, dürfen im Namen des Befreiergottes nicht andere unterdrücken. Dieses Ereignis aus biblischer Frühzeit, das immer noch als Gründungsgeschehen des jüdischen Volkes gilt, muss nun anderen als lebensrettende Erfahrung gewährt werden. Diese so illustrierte Haggada wird all jene – nicht nur in Israel – bestärken, die in jener Sklavenbefreiung der Hebräer eine Friedenspflicht verankert sehen. Eine mutige Illustration, die hoffentlich hilft, Solidarität aus 2500 jähriger Geschichte abzuleiten.