Das Ich und die Welt

geschrieben von Martin Schirdewan

5. September 2013

Eine linksanarchistische Gesellschaftstheorie aus Frankreich

Mai-Juni 2011

Unsichtbares Komitee »Der kommende Aufstand«, 128 Seiten, Edition Nautilus, 9,90 EUR

Der Befund ist erschütternd. Die namenlosen Mitglieder des Unsichtbaren Komitees diagnostizieren in der Gesellschaft einen pathologischen Defekt. Die Individualisierung führe zur fortgesetzten Zerstörung des Sozialen, die Menschen lebten ausweglos und hoffnungslos in einer Gesellschaft ohne sozialen Zusammenhalt, in der keine gemeinsame Sprache mehr existiert – in einer Gesellschaft ohne Zukunft.

Viel ist in den zurückliegenden Monaten im Feuilleton deutscher Zeitungen und Zeitschriften über die anarchistische Schrift »Der kommende Aufstand« diskutiert worden. Das Interesse schien dabei stärker auf der Frage zu liegen, wer sich denn hinter der Schrift verberge, als auf ihren konkreten Inhalten. Fabuliert wurde über die dunklen anarchischen Mächte, die sich über den Bürgerzaun schwingen, um die wärmende Decke von der schlaftrunkenen Illusion der kleinen heilen Welt zu fetzen und sich diabolisch lachend wieder in die Dunkelheit davonstehlen, ohne eine wahrhaftige Spur außer der Angst zu hinterlassen. Wer kann es wagen, dem französischen Staate – und ihm stellvertretend für andere Staaten – maskiert entgegenzutreten? Der Staat schlug zurück und inhaftierte nach einem Anschlag auf eine von einem Castortransport befahrene Eisenbahnstrecke neun Personen aus dem Dorf Tarnac und erklärte diese zu den Verfassern der »Terrorschrift«. Wer, was und wie blieb und bleibt jedoch völlig im Dunkeln.

In sieben Kapiteln, respektive Kreisen, analysieren die Verfasser die postmoderne französische Gesellschaft und ja, auch wenn der Befund und die später darzustellenden Konsequenzen von mir nicht geteilt werden, so enthält die Flugschrift einige bemerkenswerte Gedanken, die in Schärfe und Dimension denen eines Dante und seiner Höllenkreisdarstellungen ähneln, seine sprachliche Eleganz allerdings verfehlen. Sprache, das mag teilweise auch an der Übersetzung liegen, ist die Sache des Unsichtbaren Kollektivs eher weniger. Ebenso wenig gelingt es den Autoren, den Spiegel ihrer Diagnose kenntlich zu machen. Von wo blickt da wer auf Ökonomie, Arbeit, Unterhaltungsindustrie, Ökologie, die Rolle des Individuums und seiner sozialen Bindungen? Der Spiegel der Gesellschaft, kann so nur eine Idee von etwas und damit deren Interpretation durch das Unsichtbare Komitee sein. Das erscheint mir dann aber doch zu dünn: vormoderne Vergesellschaftungsstrukturen, vortechnologische Kollektive, entstaatlichte Räume wie Banlieues, zur goldenen Zukunft zu erklären.

In der Analyse stark ist die Schrift jedoch dort, wo sie die Ökologie als neue Logik totaler Ökonomie und damit als neue Moral des Kapitals beschreibt. Denn für eine Macht, die sich auf die Natur beruft, sei alles erlaubt. Die Selbstkontrolle der Menschen und die externe Kontrolle durch den Staat führe in eine Umweltdiktatur. Dabei sei die Umweltkatastrophe nur Folge der Verfehlungen der herrschenden Ökonomien, sozusagen die Imperfektion des herrschenden Systems bei der Verwaltung der Wesen und Dinge. Die sich abzeichnende Öko-Ökonomie würde zur Verteidigung der Herrschaft dieses Systems installiert und aktuelle und kommende Katastrophen dienten nur der Perfektionierung seines Funktionierens.

Für das Unsichtbare Komitee liegt die politische Antwort darauf nicht in einer gesellschaftlich verwalteten Alternative wie etwa dem Konzept eines sozial-ökologischen Umbaus der deutschen Linken, sondern im radikalen, auch revolutionären Bruch. Die Antworten lägen im Chaos menschlicher Selbstorganisation.

Die anarchistischen Jungen und Mädchen sind clever, sie stellen explizit die Frage des Cui bono: Welches konkrete Interesse steht hinter der Atomisierung der Gesellschaft und der fortgesetzten Entfremdung des Ich von seinen ursprünglichen sozialen Bindungen und seiner ursprünglichen Solidarität? Ihre Antwort ist ein radikaler Antikapitalismus und ihre Idee ein quasi guter Naturzustand, der in einem gemeinschaftlich geprägten Wir besteht, in dem das Ich existieren kann.

Damit wird auch der Fokus des Angriffs des kommenden Aufstands deutlich: es ist die westliche Zivilisation, in der eine Antinomie zwischen dem Ich und der Welt bestünde, wie die unsichtbaren Anarchisten erläutern. Bei der Flugschrift des Unsichtbaren Komitees handelt es sich um nichts weniger als den Versuch, einer Gesellschaftstheorie Leben zu schenken, bei der es sich ausdrücklich um keine Staatstheorie wie etwa bei Thomas Hobbes oder den Gewaltenteilern handelt, auch nicht um eine Theorie der Gerechtigkeit wie bei Karl Marx, John Rawls etc., sondern um eine Gesellschaftstheorie der Vergesellschaftung.

Ich muss gestehen, dass ich die letzten Seiten der Schrift nicht mehr lesen konnte und wollte, hatte ich mich doch vorher bereits innerlich von den Ausführungen des Unsichtbaren Komitees entfernt. Dennoch wird das Buch zur kritischen Auseinandersetzung empfohlen, weil es sich wohltuend abhebt von dem ganzen apolitischen Kram, der sonst so publiziert wird. Neben Stephane Hessels »Empört Euch!« stellt »Der kommende Aufstand« einen wichtigen Beitrag jüngerer linkspolitischer Publikationen dar, die ihren Ursprung in Frankreich haben. Wo sonst, bleibt dem Deutschen hier seufzend zu fragen.