Der Preis der Befreiung

geschrieben von Die Fragen stellte Regina Girod

5. September 2013

antifa-Gespräch mit Moritz Mebel, der in der Sowjetarmee
kämpfte

Mai-Juni 2010

Der Mediziner Prof. Dr. Moritz Mebel kämpfte von 1941 bis 1945 in der Sowjetarmee.

In der DDR war er ein anerkannter Nierenspezialist, er leitete die Abteilung für Organtransplantationen an der Berliner Charité.

antifa: Es gibt nur noch wenige Menschen in Deutschland, die wie du im großen Vaterländischen Krieg in der Sowjetarmee gekämpft haben und heute noch darüber berichten können. Welche Fragen werden dir am meisten gestellt?

Mebel: Allgemein interessieren sich die Leute dafür, wie man diese Zeit erlebt hat. Wie ich zum Beispiel den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin gesehen habe, oder den Tag des Überfalls auf die Sowjetunion. Doch Geschichte ist ja komplex, zu jedem Datum gibt es eine Vorgeschichte. Um Geschichte verstehen zu können, muss man sie in Zusammenhängen sehen. Und dazu gehört viel Wissen, das heute überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Das wiederum macht es jenen leicht, die versuchen, die Geschichte zu revidieren, zum Beispiel indem sie der Sowjetunion eine Mitschuld am Zweiten Weltkrieg andichten, was wirklich absurd ist.

antifa: Deine Erfahrungen unterscheiden sich zum Teil von denen anderer deutscher Emigranten. Warum?

Mebel: Ich bin 1923 in Erfurt geboren worden und bereits 1932 mit meiner Mutter, die in der KPD war, und meiner fünf Jahre älteren Schwester nach Moskau gekommen. Offiziell sind wir damals in den Urlaub gefahren. Mein Vater war ein russischer Jude, er hatte in Deutschland studiert und kam erst im Februar 1933 nach. Wir haben das Leben der normalen Russen geteilt und hatten keine Privilegien. Anfang der dreißiger Jahre war dieses Leben noch sehr schwer. Es gab nicht genug zu essen, alles wurde gegen Bezugsscheine abgegeben. Wer keine Arbeit hatte, bekam auch keine Marken und unsere Mutter hat das erste halbe Jahr nicht gearbeitet. Doch ich habe auch erlebt, wie das Leben im Laufe der dreißiger Jahre langsam besser wurde. Politisch waren die dreißiger Jahre eine äußerst angespannte Zeit. Als Schüler der Liebknecht-Schule, auf der viele Emigrantenkinder lernten, wusste ich gut Bescheid über die Politik Nazideutschlands. Nach innen und nach außen. Deshalb habe ich den Nichtangriffspakt schon damals kritisch gesehen. Doch auf der anderen Seite brauchte die Sowjetunion unbedingt Frieden. Die Verhandlungen mit den Engländern und den Franzosen über einen Beistandspakt waren gescheitert. Wahrscheinlich dachte Stalin, dass er auf diesem Wege Zeit gewinnen könnte. Die ideologischen Begleitumstände des Paktes waren allerdings unvertretbar. Und genau die werden heute mit Häme breitgetreten, ohne ein Wort über den politischen Kontext zu verlieren.

antifa: Du bist als junger Medizinstudent in die Armee eingetreten und hast den ganzen Krieg mitgemacht, von Moskau bis nach Deutschland und dann noch bis zur Kapitulation Japans. Was war das Wichtigste an deinen Kriegserlebnissen für dich?

Mebel: Die großen Blutopfer, die die Völker der Sowjetunion erbringen mussten, um Hitlerdeutschland zu besiegen. Sie haben in diesem Krieg 28 Millionen Menschen verloren, davon die Hälfte Zivilisten. Und die unwahrscheinlichen Grausamkeiten, die die Naziarmee begangen hat. Die kann und will ich nicht vergessen. Das waren nicht nur die SS-Einheiten, sondern auch reguläre Wehrmachtseinheiten. Ich erinnere mich, wie wir Istral befreiten. Als Kind war ich dort in den Ferien gewesen. Die Nazis hatten ermordete Kleinkinder in die Ziehbrunnen geworfen. Oder 1943 nach der Schlacht am Kursker Bogen. Da hatte die Faschisten vor dem Dnepr eine etwa 100 km breite Zone der verbrannten Erde hinterlassen. Die letzten Überlebenden der Zivilbevölkerung wurden in Scheunen zusammengetrieben und verbrannt. Alle Häuser, alle Dörfer wurden restlos abgefackelt. Ich habe immer an vorderster Front gekämpft. Wäre ich den Deutschen in die Hände gefallen, wäre das mein sofortiges Ende gewesen. Denn es gab ja den so genannten »Kommissarbefehl«. Er besagte, dass alle Politoffiziere und alle Juden auf der Stelle zu erschießen seien. Und ich war beides. Doch ich habe großes Glück gehabt. Erst im März 1945, bei der Einnahme der slowakischen Stadt Nitra, wurde ich durch eine Handgranate verwundet.

antifa: Wie konntest du danach überhaupt wieder in Deutschland und mit Deutschen zusammenleben?

Mebel: Ich wollte eigentlich nach Moskau zurück und mein Medizinstudium fortsetzen. Doch im November 1945 bekam ich den Befehl, zur SMAD nach Halle-Merseburg zu gehen, in die politische Abteilung. Unsere Hauptaufgabe dort bestand darin, der deutschen Bevölkerung beim demokratischen Neuanfang zu helfen. Das war ein schwieriger Prozess, denn natürlich war die Naziideologie mit der Befreiung nicht einfach verschwunden. Sie wirkte noch lange nach. Deshalb ist es für mich so bitter, dass heute in Deutschland wieder Nazis marschieren und deutsche Soldaten Krieg führen. Das hätte ich mir damals nicht vorstellen können. All unsere schrecklichen Erfahrungen haben noch nicht einmal dazu geführt, dass in Deutschland faschistische Parteien wie die NPD verboten sind. Das ist für mich unbegreiflich. Der Schwur der Häftlinge von Buchenwald »Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!« ist bis heute nicht eingelöst.