Der Rabbiner-Nachfahre

geschrieben von Irene Runge

5. September 2013

Günter Nobel: Kommunist, Brandenburg-Häftling,
Shanghai-Emigrant

Nov.-Dez. 2007

Am 12. März 2003 hatte der Jüdische Kulturverein Berlin zu einem Fest geladen, denn Günter Nobel war gerade 90 Jahre alt geworden, aber er legte wenig Wert auf solche Art Ehrungen. Also bat er seine Gäste um gute Laune und solidarische Spenden für seinen Verein. So haben wir auch seinen 85. gefeiert, den 80. hat er uns vorenthalten.

Günter, der Nachfahre bedeutender deutscher Rabbiner, der von den Nazis exmatrikulierte Berliner Student, der Kommunist, Brandenburghäftling zwischen 1936 und1939, der Werkzeugmacher, Shanghai-Emigrant, SBZ-Rückkehrer aus politischer Überzeugung, der Ehemann, Vater, Groß- und Urgroßvater, Freund und Genosse – er wirkte schließlich als längst berenteter Wirtschaftsfunktionär über Jahre hinweg auch als engagiertes Vorstandsmitglied im Jüdischen Kulturverein Berlin. Wenn ich an ihn in dieser Funktion denke, fällt mir seine wache Disziplin ein, seine klare Parteilichkeit, sein solidarisches Mitgefühl, sein verschmitzter Humor. Er war ohne Wenn und Aber einer von uns.

Wie andere seiner Generation hatte auch Günter Religion und jüdisches Brauchtum mit Muttermilch und Vaterwort aufgesogen, aber wie sehr viele unserer sozialistischen Eltern schlug auch er dieses jüdische Erbe aus. So war er an dessen Weitergabe an uns wegen frühzeitig intensiver Politisierung in SAP und KPD folglich auch nicht beteiligt.

Dass er und Genia, seine Frau, sich nach dem Ende der DDR ausgerechnet auch noch in einem Jüdischen Kulturverein beheimatet haben, dass sich Günter in unseren Sprecherrat wählen ließ, dass er dadurch über Jahre unsere endlosen Debatten zu Religion und Weltlichkeit, über die richtige Gestaltung jüdischer Feiertage und die Kaschrut freundlich, gar wohlwollend zur Kenntnis nahm und gern mit orthodoxen Besuchsrabbinern plauderte, die ihn als einen Nobel-Nachfahren mit größter Hochachtung behandelten, gehörte dazu.

Aus mir nicht bekannten, wohl weit zurückliegenden, gewiss religiösen Gründen, waren zwei der großen rabbinischen Dynastien in Deutschland, die der Nobels und Carlebachs, heftig und unversöhnt miteinander verfeindet. Im Jahr 1990 nun kam der unvergessene Reb Shlomo Carlebach, der fast letzte bekannte Rabbiner aus der berühmten Carlebach-Dynastie aus Manhattan zu uns in den Jüdischen Kulturverein. Er sang wie immer predigend und predigte singend mit, für und bei uns, aber auch im Westberliner Interkonti-Hotel. Dort fand gerade irgendeine jüdische Tagung statt. Einige von uns folgten Reb Shlomo brav dorthin, in einer Eingebung flüsterte ich ihm zu, dass sich auch Günter Nobel unter den Gästen befinde. Sofort holte der Rabbiner den überraschten Günter auf die Bühne, umarmte ihn, und so kam es endlich zu der längst überfälligen und unerwarteten Aussöhnung der Familien Carlebach und Nobel. Damals war mir und uns nicht im Entferntesten klar, dass in diesem Moment an der jüdischen Geschichte Deutschlands weiter geschrieben wurde.

Aber Günters Prioritäten waren dennoch andere: Ihm ging es um die Erfahrungen aus dem Widerstand und um die daraus abzuleitende politische Agenda der Gegenwart. Er war, er sah sich als einen der letzten Zeitzeugen, die über den Kampf und die Lehren daraus berichten konnten. So, als wir beispielsweise zum ersten Mal Heinz Fromm, den Präsidenten des Bundesverfassungsschutzes zu einem öffentlichen Gespräch in den Verein eingeladen hatten. Es war natürlich Günter, der eindringlich argumentierend von diesem das Verbotsverfahren der NPD anmahnte. Kein Antifa-Sonntag im September, kein Fabrik-Aktions-Gedenken, keine politische Debatte, die er freiwillig verpasst hätte.

Aus Shanghai kehrten Günter und Genia 1947 mit kämpferischer Zuversicht in die spätere DDR zurück – nicht zuletzt war es Bruno Baum, Freund und Mithäftling in Brandenburg, der Auschwitz überlebt hatte, der die beiden in Briefen nach Shanghai von dieser Mission überzeugte.

Wir werden dafür zu sorgen haben, dass Günters deutsch-jüdisch-politisch-kulturell-persönliche Biographie nicht allzu einseitig erinnert wird.