Die Seele der Dinge

geschrieben von Heinrich Fink

5. September 2013

Bewegende Erinnerungen einer Auschwitzüberlebenden

Nov.-Dez. 2012

Éva Fahidi »Die Seele der Dinge«

Lukas Verlag, Berlin

Herausgegeben im Auftrage des Internationalen Auschwitz Komitees und der Gedenkstätte Deutscher Widerstand

»Wir, die wir Zeitzeugen sind, haben gewisse Dinge erlebt, über die man heute so sprechen muss, dass es geglaubt werden kann. Das Erzählen über das, was vor siebenundsechzig Jahren war, bedeutet, Geschichte zu vermitteln.

Und wenn ich darüber zu sprechen habe, fällt mir doch immer ein: Was sagen wir unseren Kindern, was sagen wir unseren Enkelkindern. Wie ist es möglich, dass es immer wieder zurückkommt und zurückkommt?

Wir sprechen über die Verantwortung der Regierungen und der Zuständigen. Warum sprechen wir nicht über die Verantwortung von uns selbst!

Was sagen wir unseren Kindern über Rassenhass? Wie werden wir sie empfangen, wenn das Enkelkind mit einem Sinti oder Roma nach Hause kommt? Würde meine Schwiegermutter eine Romafrau sein, was tue ich dann? Da fängt es doch an.

Ich hoffe, dass Sie ihre Kinder und Enkelkinder in diesem Sinne erziehen werden. Wenn es auch noch so utopisch ist: Rassenhass muss nicht auf der Erde sein.«

»Ich kann und will die Erniedrigung und das Leiden nicht vergessen. Wie aber kann ich den mir Nächsten und Liebsten, auch den Familienmitgliedern, die damals nicht mit mir dort waren, das Auschwitz, das Birkenau vermitteln, wie ich es erleben musste?« Diese Frage lässt Éva Fahidi nicht los, sie treibt sie um und quält sie: Sie zwingt sich, sie zu beantworten.

Nach sechzig Jahren schreibt sie in ihrem Lebensbericht »Die Seele der Dinge« darüber. Es ist ein ergreifendes Buch. Sie schrieb es, weil sie nicht mehr verantworten konnte, weiter über das zu schweigen, was sie in der Hölle von Auschwitz erlebt hat. Es ist den Nachgeborenen gewidmet, die in ihrem Heimatland Ungarn schon wieder politische Entwicklungen erleben, die Éva Fahidi an ihre Jugendzeit erinnern. Wieder werden ethnische Minderheiten zur Zielscheibe rechtsradikaler Angriffe. In ihrer Jugend waren es die Juden. Nun sind es Sinti und Roma, die verfolgt, sogar getötet werden – mit offener Billigung durch die neue rechtspopulistische Regierung in Budapest. Dass so etwas wieder möglich ist, beschämt sie und wie sie selbst sagt: »Es macht mich wütend.« Sie will als 86-Jährige mit der ihr noch verbleibenden Kraft darüber aufklären, wie es in ihrer Jugend zu den faschistischen Untaten kommen konnte, zum Beispiel durch das Zusehen der ungarischen Bevölkerung beim Abtransport der Juden in die Konzentrationslager.

Das Buch als Ganzes ist ein langes Gespräch mit den Lesern, die ihren Fragen nicht ausweichen können. Sie zwingt sie geradezu zu Antworten, um weiterzulesen. »Wer von euch kann sich vorstellen, niemanden und nichts, rein gar nichts zu haben?« Hinter dieser Frage zum Beispiel steht ihre eigene Fassungslosigkeit, als sie als 18-Jährige aus einer glücklichen Kindheit und Jugend aus einer wohlhabenden Familie herausgerissen wurde und vor der Selektionsrampe in Auschwitz stand. »Ihr steht auf dem Appellplatz splitternackt. Es gibt nichts, auf der ganzen Welt nichts, das euch gehören würde … Von dem, was ich gewesen bin, ist nichts übrig geblieben, nur die Erinnerung.« Diese Erinnerung hilft ihr beim Leben. Es sind die kleinen Dinge, die ihr noch von ihrer Familie geblieben sind, mit denen ihre Eltern gelebt haben: Sie haben für sie eine Seele. »Die Seele der Dinge« ist deshalb der Titel ihres Buches, in dem sie die Geschichte ihrer jüdischen Familie beschreibt, ihre wunderbare Kindheit, in der sie sich vorstellte, Pianistin zu werden. Dieser Traum wurde jäh abgebrochen, als sie selbst und ihre gesamte Familie von den Faschisten nach Auschwitz deportiert wurde. Sie ist die einzige Überlebende: »In der Morgendämmerung des 1. Juli 1944 auf der Rampe von Auschwitz-Birkenau war meine Jugend vorbei. Alles wurde mit einer Handbewegung zunichte gemacht, mit einer Handbewegung durch die Mengele mich auf eine Seite, meine Eltern und meine Schwester auf die andere schickte.« Éva überlebte die Befreiung als Zwangsarbeiterin in der Munitionsfabrik Münchmühle/Allendorf, einem Außenlager von Buchenwald. Sie kehrte nach Ungarn zurück. Auf die Frage, wie sie nach den schlimmen Erfahrungen wieder neu mit einem befreiten Leben beginnen konnte, antwortet sie: »Es blieb der ›verschlüsselte‹ Schmerzensschrei. Ich habe keine Sprache, um den Laut der Todesfurcht des Entsetzens und des Schmerzes wiederzugeben, keine Worte, sie zu beschreiben.« In ihrem Buch hat sie doch die Worte gefunden, das Unbeschreibliche zu beschreiben.

Im April diesen Jahres, am 67. Jahrestag der Befreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald, hat Éva Fahidi-Pusztai vor deren Nachkommen nachdrücklich und unvergesslich über ihr Erleben in der Nacht des 2. August 1944 berichtet, als sie Zeugin der Ermordung der Frauen und Kinder im »Zigeunerlager« von Birkenau wurde. Sie endete mit dem Satz: »Die Verantwortlichen sollen in der Hölle für die Ewigkeit nichts anderes hören, nur das, was wir in dieser Nacht hörten.«