Ein Jahr danach

geschrieben von P.C. Walther

5. September 2013

Die »Aufklärung« der NSU-Morde und das behördliche
»Versagen«

Nov.-Dez. 2012

Allein was wir bis jetzt erfahren haben, weist auf erschreckende Verhältnisse hin: In den Verfassungsschutzämtern wurden Akten und Unterlagen vernichtet oder zurückgehalten, wurde vertuscht, verschwiegen, getrickst und gelogen. Im Bundesamt für Verfassungsschutz wurden nach der Enttarnung der neonazistischen Terrorzelle NSU weitaus mehr Akten geschreddert als bis dahin bekannt war, meldeten Mitte Oktober die Nachrichtenagenturen und nannten die Zahl von 284 Akten.

In dem nunmehr vergangenen einen Jahr seit der Aufdeckung der Mordtaten des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) und der dabei deutlich gewordenen Unfähigkeit oder Unwilligkeit von Polizei und Verfassungsschutz, die wahren Täter zu ermitteln, ist trotz regierungsamtlicher Versprechungen von baldiger »rückhaltloser Aufklärung« wenig geschehen.

Zum Gedenken an die Opfer gab es eine zentrale Gedenkveranstaltung, auf der die Bundeskanzlerin eben dieses Aufklärungs-Versprechen abgab. Für die Hinterbliebenen und Angehörigen gab es Worte der Entschuldigung für die falschen Verdächtigungen, mit denen die Opfer gewissermaßen als zum Täterumfeld gehörend betrachtet und die betroffenen Familien dementsprechend diskriminierend behandelt wurden. Unterdessen erhielten die Familien auch Entschädigungszahlungen.

Eine tatsächliche Aufarbeitung der Ursachen und Anlässe, wieso und weshalb die Mordtaten, Anschläge und Banküberfälle der Neonazibande jahrelang unerkannt und unbehindert geblieben sind, hat bislang nicht stattgefunden.

Um eine der Hauptursachen des »Versagens« wird nach wie vor ein großer Bogen gemacht: Dass nämlich die Blickrichtung von Polizei und Verfassungsschutz primär auf Ausländer und Migranten fixiert war – und nicht nach rechts.

Die Ursachen dieser »Blindheit« gegenüber Rechts sind von uns schon mehrmals angesprochen worden: Es ist der Geburtsfehler des Verfassungsschutzes und auch der obersten Polizeibehörde, des Bundeskriminalamtes. An der Wiege dieser Sicherheitsbehörden standen in erheblicher Anzahl ehemalige SS-, SD- und Gestapo-Angehörige mit entsprechender Ausrichtung. Da hatte sich alles versammelt, was stramm antikommunistisch, rechts und wenig demokratieorientiert war. Der Feind wurde auf der linken Seite gesehen, was im Kalten Krieg durchaus passend war. Auf der politischen Ebene sind diese Ursachen des nunmehr für alle sichtbar gewordenen Debakels bislang unbehandelt geblieben. Doch wenn das nicht geschieht, kann es zu keiner wirklichen Aufarbeitung kommen.

Im Grunde genommen war der Verfassungsschutz an dem Verbrechertrio immer dicht dran. Zum Umfeld des NSU gehörten rund einhundert Neonazis, darunter mindestens fünf langjährige V-Leute von Polizei und Verfassungsschutz. Zwei Beispiele: Der NSU-Helfer Thomas Starke stand von 2000 bis 2011 als V-Mann im Dienste des Berliner Landeskriminalamtes. Bereits 2002 soll er einen Hinweis auf eine Verbindung zu dem untergetauchten Trio gegeben haben, der jedoch nicht weiter verfolgt wurde. Ein anderer Unterstützer des NSU, Thomas Richter alias »Corelli«, war ebenfalls jahrelang V-Mann des Bundesverfassungsschutzes. Er hatte dem Trio Sprengstoff geliefert. Und schließlich: Der Neonazi-Zusammenschluss »Thüringer Heimatschutz«, aus dem die NSU-Zelle hervorgegangen ist, bestand zu einem guten Drittel aus V-Leuten im Solde von mehreren Nachrichten- und Geheimdiensten. Damit wurde der THS zu einem erheblichen Teil staatlich finanziert und personell gestützt, zumal der Organisator und Anführer des THS von Anfang an im Solde des Thüringer Verfassungsschutzes stand.

Dennoch passierte nichts, was dem NSU das Handwerk gelegt hätte. Vor den Untersuchungsausschüssen gaben sich VS-Führer und verantwortliche Politiker unwissend oder verwahrten sich sogar dagegen, befragt zu werden. Eine Reihe der oben angeführten Informationen, zum Beispiel die, dass V-Leute im direkten Umfeld des NSU tätig waren und dass viel mehr Akten vernichtet wurden als bis dahin bekannt, wurden lange Zeit zurückgehalten; nur widerwillig gab man sie preis. Andere Sachverhalte sollen auch weiterhin unter die Geheimhaltung fallen.

Schon die bis jetzt mögliche, unvollständige Zwischenbilanz führt zu der Feststellung, dass es so nicht weitergehen darf. Die Bekämpfung des gesamten Neofaschismus, mit all seinen Ausformungen und Erscheinungen, erfordert grundlegend andere Herangehensweisen.Dazu gehört an vorderster Stelle die Durchsetzung des im Grundgesetz und in den Strafgesetzen verankerten Faschismusverbots, d.h. das Verbot der NPD und aller Neonazi-Organisationen; und als ganz vordringlich: die alltägliche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der neonazistischen Ideologie und allem, was dazu gehört – und schließlich ein ganz anderer, tatsächlicher Demokratie- und Verfassungsschutz.

Bei allen Bemühungen um Aufklärung und Aufarbeitung darf keinesfalls hintenan stehen, an die Hinterbliebenen und Angehörigen der Opfer zu denken und uns um ihre Belange zu kümmern. Was passiert ist, darf nicht noch einmal geschehen.