Gegen mythische Verklärung

geschrieben von Klaus Polkehn

5. September 2013

Eine „kritische Geschichte“ der Juden

Jan.-Feb. 2007

Alfredo Bauer

Kritische Geschichte der Juden

Band 1 – 428 Seiten / Essen 2005 / Euro 19,80

Band 2 – 199 Seiten / Essen 2006 / Euro 14,90

Neue Impulse Verlag, Essen

Probe aufs Exempel: Man frage den Erstbesten nach Juden. Wer sie seien. Woher sie kämen. Die Skala der Antworten kann von Relikten eines Religionsunterrichts bis zu antisemitischen Klischees reichen. In der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus ist die Kenntnis jüdischer Geschichte von Nutzen. Wer sich kundig machen will, findet auf dem Buchmarkt jedoch meist Traditionsverhaftetes oder nicht Objektives, weil am Zionismus orientiert. In diese Lücke stößt die zweibändige „Kritische Geschichte der Juden“ von Alfredo Bauer, 1924 in Wien geboren, 1939 von den Nazis nach Argentinien vertrieben, Arzt und Autor.

Wieso „kritische Geschichte“? Weil Bauer die Geschichte der Juden ihrer mythischen Verklärung entkleidet und sie aus den historischen und sozialökonomischen Entwicklungen heraus erklärt. Er beginnt mit der Herausbildung des Monotheismus semitischer Nomadenstämme in Palästina im Übergang zur Sesshaftigkeit. Vorstellungen des benachbarten Mesopotamien und Ägypten wurden aufgegriffen. An der Entstehung des Judaismus zu Beginn der Bronzezeit ist nichts Mythisches. Wo Bauer das frühe Königtum in Israel und Judäa und die Zeit der Propheten beschreibt, stellt er vieles vom Kopf auf die Füße.

Naturgemäß nehmen Entstehung und Geschichte der jüdischen Diaspora breiten Raum ein: „Einer der größten Irrtümer, die durch die Zeiten und die Geschichtsbücher geschleppt werden,“ schreibt er, „ist die Annahme, die Juden seien gewaltsam aus Palästina vertrieben worden und hätten immer den Wunsch gehegt, nach dem geliebten Zion zurückzukehren.“ Bauer untersucht, wie sich das Christentum aus dem Judentum heraus entwickelte und von ihm löste. Er stellt die Geschichte der Juden im europäischen Mittelalter bis in die Neuzeit dar, wobei das islamische Spanien und die Zeit in der Reconquista, also die Abfolge von fruchtbarer Symbiose und schrecklicher Verfolgung, breiten Raum einnehmen. Eine umfassende Darstellung der Geschichte der Juden in Polen und die Erklärung der Herausbildung einer jüdischen Nationalität in Osteuropa folgen. Bemerkenswert die Beschreibung der Lage im Osmanischen Reich.

Schließlich wendet sich der Autor der bürgerlichen Emanzipation und Assimilation in Europa zu. Er behandelt eingehend das Wirken jüdischer Wissenschaftler und Künstler und zeigt gerade daran, wie absurd jedweder rassistische Blick ist: Diese „Juden“ sind untrennbarer Teil der Menschheitskultur. (Übrigens konnten sich manchmal nicht einmal die gewalttätigsten Rassisten dieser Wahrheit entziehen: Bauer erwähnt, wie die Nazis den jüdischen Ursprung der Familie des „Walzerkönigs“ Johann Strauß verschleierten).

Der zweite Band widmet sich dem „modernen“ Antisemitismus, der Entstehung des Zionismus. Ein besonderes Kapitel ist zu Recht der Arbeiterbewegung gewidmet. Bauer geht auf die Shoah ein und auf den jüdische Widerstand gegen den Faschismus. Die Gründung Israels und den Krieg von 1948/49 behandelt Alfredo Bauer sehr verkürzt. Seine Sympathie gilt einem Palästina, in dem gleichberechtigter Platz für Juden und Palästinenser ist, in dem beide – heute kaum vorstellbar – freundschaftlich beisammen leben. Er erwähnt die gezielte Vertreibung der arabischen Bevölkerung. Seine Feststellung, Israel sei „nicht von Anfang an ein Schachfigur des Imperialismus“ gewesen müsste jedoch hinterfragt werden. Ein Detail: Unrecht hat er, wenn er im Zusammenhang mit der Ermordung des UN-Vermittlers Bernadotte die Stern-Gruppe als „linksgerichtet und araberfreundlich“ bezeichnet: Die Stern-Gruppe war eine quasi faschistische Organisation, die übrigens 1942 Nazideutschland eine Kooperation angeboten hatte.

Wichtig scheinen mir die Überlegungen Bauers über die Entstehung einer neuen Nation, der jüdisch-israelischen in Israel. Er stellt das in Gegensatz zu dem von den Zionisten „mystifizierten Konzept der ‚jüdischen Nation'“. Diese Position ist auch deshalb wichtig, weil die sowohl von hiesigen Pro-Israel-Kräften, als auch von Antisemiten und von vielen unwissenden praktizierte „Geiselnahme“ deutscher Juden rundheraus bekämpft werden muss: Man kann und darf nicht hiesigen Juden die Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Führung anlasten. Im Gegenteil: gerade unter den mit uns lebenden Juden finden sich viele aufrechte Verteidiger der Menschenrechte der Palästinenser. Im Schlusskapitel zieht Alfredo Bauer Bilanz. In der der jüdischen Diaspora macht er voller Hoffnung neue Tendenzen unter den Juden aus: Jene, die die „jüdische Absonderung“ ablehnt, die sich weltweit für Menschernrechte engagiert. Israel aber, schreibt er, „hat auf Dauer nur eine Perspektive, wenn es sich, zu seiner eigenen Sicherheit!, vom Imperialismus löst und eine Verständigung mit den arabischen Völkern sucht. Israel muß ein friedliches Land sein, das die Rechte der anderen Völker respektiert; oder es wird einfach nicht sein.“