Geschichte und Politik

geschrieben von Regina Girod

5. September 2013

Oder: Wem gehört die Deutungsmacht?

Mai-Juni 2007

Scheinbar eine rhetorische Frage, wo doch seit Menschengedenken die Historie von jenen gedeutet wird, welche die politische und auch die ökonomische Macht dazu besitzen. Aus der Geschichte wurden und werden Machtansprüche und Kriegsgründe hergeleitet, mit ihrer Hilfe kann man innere und äußere Gegner diffamieren und tatsächliche politische Interessen verschleiern. Seit jeher werden nicht nur den Nachgeborenen geschichtliche Lehren vermittelt, sondern jeder, der politisch aktiv wird, ordnet sich mit seinem Handeln in historische Zusammenhänge ein. Geschichtsfälschung und

-umdeutung gehören zu den klassischen Methoden politischer Manipulation. Sie zu hinterfragen, aufzuklären und immer wieder aufzuklären, darin besteht wohl die einzige Möglichkeit, Deutungsmacht zu brechen.

Beispiel eins: der Fall Oettinger. Was kann ihn dazu bewegt haben, seinen Amtsvorgänger wenigstens postum von dem Vorwurf, ein nationalsozialistischer Täter gewesen zu sein, freizusprechen? Immerhin hat er nicht bestritten, dass Filbinger in der Nazizeit Marinerichter war. Dass er keine Todesurteile gefällt hätte, war dagegen schon eine Lüge. Interessanterweise traten sofort, nachdem die ersten Proteste laut geworden waren, führende CDU Politiker auf und verkündeten, Oettinger habe ihnen »aus der Seele gesprochen«. Also doch mehr als ein freundlicher Trost für die Hinterbliebenen? In der Bundesrepublik Deutschland bekleideten ehemalige Nazigrößen hohe und höchste Ämter, die Bundeswehr wurde mit Nazimilitärs aufgebaut, auch im diplomatischen Dienst verblieben viele »Ehemalige«. Die »Entnazifizierung« lief im Unterschied zur sowjetischen Besatzungszone vielerorts als Farce ab. Als Täter galten höchstens ein paar SS-Leute, aber selbst die wurden bis heute nicht an jene Länder ausgeliefert, in denen sie ihre Verbrechen begangen haben.

Der erzwungene Rücktritt Filbingers im Jahr 1978 stellte diese Normalität in Frage. Der Form nach ein Einzelfall, warf er doch ein Schlaglicht auf verdrängte und verleugnete Geschichte. Die Rede Oettingers kann als Beweis dafür gelten, dass die Affäre Filbinger für bestimmte politische Kreise bis heute eine Niederlage darstellt, die man zu gern revidieren würde. Und sei es auch nur im historischen Gedächtnis. Getreu dem Motto. »Ich bin es nicht gewesen – Adolf Hitler ist es gewesen!«

Beispiel zwei: ein umgekehrter Fall aus Berlin. Eine mutige Antifaschistin wird zur »stalinistischen Täterin« umgedeutet. Aus Anlass des einhundertsten Geburtstages von Ruth Werner beantragte unlängst die PDS-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung von Treptow/Köpenick, einen bisher namenlosen Uferweg nach der bekannten DDR-Schriftstellerin zu benennen. Ruth Werner, Kommunistin jüdischer Herkunft, hatte in der Emigration als Funkerin für die sowjetische Aufklärung gearbeitet, unter anderem gemeinsam mit Richard Sorge und Klaus Fuchs. Mehr als einmal riskierte sie dabei ihr Leben. Im zuständigen Ausschuss der BVV Treptow/Köpenick stieß der PDS-Antrag allerdings auf deutlichen Unwillen. Ein Abgeordneter der CDU monierte, dass man doch in Berlin gerade eine Gedenktafel für die Opfer des Stalinismus eingeweiht hätte. Da könne man jetzt nicht eine »stalinistische Täterin« ehren. Diese Argumentation wurde allerdings noch überboten, von dem Berliner NPD-Vorsitzenden Bräunig. Er bezeichnete Ruth Werner und ihre Mitkämpfer als »Vaterlandsverräter«, seine üblen Beschimpfungen wurden mit einem Ordnungsruf quittiert, anschließend schritt man zur Abstimmung und lehnte den Antrag ab.

Die Tatsache, dass die SPD-Bürgermeisterin von Treptow/Köpenick bereit war, am 8. Mai auf der Veranstaltung zum Tag der Befreiung am Treptower Ehrenmal für die gefallenen Sowjetsoldaten zu sprechen zeigt, dass im Gedächtnis mancher Politiker die grundlegenden Lehren der Geschichte des 20. Jahrhunderts noch bewahrt sind. Überlassen wir nicht jenen die Deutungsmacht, die sie – nicht nur bei Politikern – für immer vergessen machen wollen.