Glaube an die Vernunft
5. September 2013
Die engagierte Antifaschistin Elsa Werner ist 100 Jahre alt
März-April 2011
Rund 300 Freundinnen und Freunde, Mitstreiter und Mitstreierinnen aus einem langen politischen Leben, waren Elsa Werners Einladung zu ihrem 100. Geburtstag ins Hamburger »Politt-Büro« gefolgt. Heine, Brecht, Kästner und die Bejaranos mit der Microphone Mafia hatte sie bestellt. Ihr Geburtstagswunsch war eine ganze Seite in der Hamburger Morgenpost: »Keine Stimme den Nazis – NPD-Verbot jetzt!« Auschwitz-Komitee, VVN-BdA, ver.di und die Jüdische Gemeinde waren die Unterzeichner.
VVN-Bundesvereinigung und antifa schließen sich den Glückwünschen und dem Dank an eine kämpferische, scharfsinnige, kluge, humorvolle und warmherzige Frau an, die mit ihrer hundertjährigen Lebenserfahrung bis heute wichtige Beiträge zur »Entschädigung für NS-Verfolgte« leistet.
Die Festrede hielt – stellvertretend für alle – Dr. Detlef Garbe, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf Grundlage eines kurzen Textes »Meine Visionen im Jahr 1945«, der zu den wenigen öffentlichen Äußerungen gehört, mit denen Elsa Werner etwas über ihr Leben mitgeteilt hat.
Hier einige Auszüge:
Elsa Werner wurde am 15.2.1911 als Tochter einer jüdischen Mutter und eines katholischen Vaters in Hamburg geboren. Als Kind lernte sie die Hilfsbereitschaft der Jüdischen Gemeinde kennen, die die zwölfköpfige Familie zum Beispiel mit Kleidung unterstützte.
Als Hitler Reichskanzler wurde, arbeitete sie im Büro des ZK der KPD in Berlin. Es folgte die Illegalität und 1934 Verhaftung und Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Anders als ihr Bruder Heini, der zwölf Jahre KZ-Haft durchleben musste, kam sie nach halbjähriger Haft dank der Standhaftigkeit der Mitangeklagten wieder frei.
Als 1938 in der so genannten »Polenaktion« etwa 17.000 polnische Juden ausgewiesen wurden, war auch ihr Lebensgefährte betroffen. Elsa folgte ihm. Bei Kriegsbeginn flüchteten sie in den Teil Polens, den die Rote Armee besetzte. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion gab es kein Entkommen mehr. Beide mussten Zwangsarbeit leisten, wobei Elsa das Glück hatte, wegen ihre Sprach- und Steno-Kenntnisse als Schreibkraft in einer Zuckerfabrik beschäftigt zu werden. Kurz vor Kriegsende wurde sie nach Theresienstadt gebracht und dort befreit. Das Grauen, das sie erlebt hat, bleibt verbunden mit dem Schmerz um ihren Mann, der 1942 in der Shoah ermordet wurde.
Elsa kehrte nach Hamburg zurück. Zusammen mit ihrer Jugendfreundin Anita Sellenschloh arbeitete sie als Sekretärin von Franz Heitgres, dem Leiter des Komitees ehemaliger politischer Gefangener und von den Briten eingesetzter Senator für »Wiedergutmachung und Flüchtlingshilfe«. Auch danach blieb Elsa Werner im Amt tätig. Sie sah in der Hilfe für die Verfolgten, die aus den Gefängnissen, Ghettos und Lagern zurückkehrten, ihre Aufgabe, auch wenn sie den falschen Begriff der »Wiedergutmachung« stets ablehnte.
Im Rückblick auf ihre Visionen von 1945 angesprochen, antwortete Elsa: »Für mich war es die eines wahrhaft demokratischen Deutschland, eines gerechten, solidarischen Landes, eines friedliebenden Landes, frei von Antisemitismus, frei von Diskriminierung, eines Landes, das die Opfer der NS-Zeit mit Kleidung, Wohnung, Nahrung, mit Wärme umgibt, das versucht, für Schäden aufzukommen, die es angerichtet hatte in Europa.« Dafür setzt sie sich bis heute ein. Noch heute registriert sie jede Novellierung, jede neue Verfahrensrichtlinie oder Bemessungsgrenze, kennt alle Härtefonds auf nationaler wie internationaler Ebene und gilt deshalb nach wie vor als unersetzliche Expertin auf diesem Gebiet. Sie weiß das und vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, dass sie sich auch im hohen Alter ihre unermüdliche Betriebsamkeit, ihre geistige Beweglichkeit und ihre sprudelnde Aktivität bewahrt hat.
Als politischer Mensch, der seine Visionen nicht abgelegt hat, ist Elsa Werner vielen ein unbequemer Geist, eine Radikale für die Sache der Demokratie, der Gerechtigkeit und des Friedens, eine Streiterin gegen alten und neuen Faschismus. In ihren eigenen Worten klingt dies so: »Konfrontiere ich meine Visionen mit der heutigen Realität, ist das Ergebnis entmutigend. Gewiss, die BRD ist demokratisch – aber wahrhaft demokratisch? Wehrhaft demokratisch? Was für eine befremdliche Demokratie, in der eine Partei in einem deutschen Parlament den Opfern der Shoa eine Gedenkminute verweigern kann. Ist dies Land frei von Antisemitismus – gewiss nicht, wir wissen das. … Frei von jeder Diskriminierung? Frei von Fremdenfeindlichkeit? Es fehlt immer noch und immer wieder die Zivilcourage, die zur Demokratie gehört. Was also bleibt? Meine Vision war eine Illusion, ganz ohne Frage. Und dennoch: Ich habe die letzten 60 Jahre in diesem Land gelebt und gearbeitet, es kann nicht ganz umsonst gewesen sein, Ich glaube immer noch, auch wenn es schwer fällt, an ein Stückchen Vernunft im Menschen.« Und an uns Nachgeborene richtet sie den Aufruf: »Ihr seid dran, diese Vernunft am Leben zu halten, die nächste, die übernächste Generation.«