Historischer Eintopfsonntag

geschrieben von Kurt Pätzold

5. September 2013

Was wollte die Geschichtskampagne zum 1. September?

Nov.-Dez. 2009

Vor wenigen Wochen, am 1. September, war es auf den Tag genau siebzig Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Überfall auf Polen begann. Die zeitliche Entfernung besagt, dass das Ereignis aus der Zeitgeschichte herausrückt. In wenigen Jahren wird niemand mehr am Leben sein, der sich des Tages, der zu den folgenschwersten des 20. Jahrhunderts gehört, aus Eigenem noch zu erinnern vermag. Die Tage des mehr als fünfjährigen Krieges sind gezählt, die Zahl der Millionen Toten annähernd ermittelt. Geschichtsforscher vieler Sprachen und mehrerer Generationen haben seinen »Fährten« nachgespürt, Geschichte und Vorgeschichte des Krieges untersucht. Die daraus hervorgegangene Literatur füllt Bibliotheken. Jedem Denkbegabten ist es gegeben, daraus Antworten auf die Kernfragen zu gewinnen, die an Kriege noch stets zu stellen waren. Welchen Widersprüchen und daraus erwachsenen Konflikten ist er entsprungen? Wessen Interessen und Kräfte haben ihn hervorgebracht? Mit welchen Zielen wurde er geführt und wie verhalten sich dazu seine Ergebnisse?

Wie alle Beschäftigung mit der Geschichte, zielt sie nicht auf die Vernebelung oder dient sie nicht bloßer Unterhaltung, mündet auch diese in die Frage »Warum«.

Daran gemessen, könnte dieser 70. Jahrestag als Beweis dafür angesehen werden, dass Geschichtsforschung in Deutschland entweder nicht stattfindet oder, wenn das der Fall ist, ihre Resultate doch nicht in jene (nicht nur Fernseh-) Kanäle gelangen, durch die sie hindurch müssen, um beträchtliche Teile der Bevölkerung zu erreichen. Was den Deutschen am 1. September 2009 wieder angeboten wurde, verdient die Bezeichnung Schonkost, freilich in einem besonderen Sinne, denn es sollten nicht diejenigen geschont werden, denen sie verabreicht wurde, sondern jene gesellschaftlichen Zustände, aus denen der Krieg hervorgegangen war und das, weil wir ihnen bei aller Veränderung im Wesen doch nicht entronnen sind. Im Angebot ist: Der Ursprung des Krieges lag in Hitlers (oder auch: im nationalsozialistischen) Wahn und, von ihm gepackt, haben die Deutschen die Welt überfallen. Das gibt und präsentiert sich als nationale Selbstkritik: »Wir Deutsche«, die sich von niemandem in ihrer von Generation zu Generation als Erbe weitergegebenen Betroffenheit übertreffen lassen.

In diesem Jahr hat dieser 1. September uns freilich so richtig in unser Erinnerungsprogramm nicht hineinpassen wollen. Wir sind mit der Vorbereitung auf einen anderen Tag vollbeschäftigt. Da traf es sich gut, dass unsere neuen polnischen Freunde sich der Sache annahmen und das einstige Danzig zum zentralen Gedenkort erklärten. Und es traf sich doppelt gut, weil von ihnen und ihren Gästen schmerzende Analysen und Bezüge nicht zu erwarten waren. Und in der Tat, die Annahme erwies sich als berechtigt: Wenn von Deutschland und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs geredet wurde, dann geschah das durch jedermann in einer gleichsam volksgemeinschaftlichen Perspektive, an der auch der Führer seine Freude gehabt haben würde. Und auch an der dort erhobenen Forderung nach einer Geschichtsbetrachtung, »die gegen niemanden verwendet« werden könne.

Veranstaltet wurde im Hinblick auf die Rolle des Naziregimes so etwas wie ein historischer Eintopfsonntag. Diese Geschichtsbetrachtung kennt, so sehr sich deren berufsmäßige Jünger darauf etwas zu gute halten, keine Differenzierung. Das gipfelte in dem Stereotyp, das der »Spiegel« für seine Aufmachung wählte: »Der Krieg der Deutschen – 1939: Als ein Volk die Welt überfiel«.

Zwei Tendenzen treten aus der Geschichtskampagne 1. September 1939 in diesem Jahr hervor und sollten in Details nicht untergehen. Die eine äußerte sich in den konzentrierten Anstrengungen, der Sowjetunion die Hälfte der Kriegsschuld zuzuschreiben, ein Vorhaben, das durch die Verweigerung der russischen Politik und Historiographie erleichtert wird, sich von einer bloß moralischen Verurteilung von Stalins Außenpolitik, die obendrein mit Rechtfertigungen untermischt wird, zu einer uneingeschränkten historischen Kritik durchzuarbeiten. Davon ziehen alle ihren Nutzen, die hierzulande bis auf den heutigen Tag leugnen, dass es im Jahre 1939 nur einen Kriegsinteressenten in Europa gab: den faschistischen deutschen Imperialismus.

Einzig die Vorsitzenden der beiden katholischen Bischofskonferenzen in Deutschland und Polen haben auf eine Unterscheidung bestanden – zu ihren Gunsten. Sie erwähnten ihre Märtyrer. Und sie verschwiegen ihre strammen Parteigänger der deutschen Eroberer wie den katholischen Feldbischof in der Wehrmacht Franz Justus Rarkowski.

Diesen Vortrag hat der Autor beim »Ossietzky-Tag« am 3. Oktober 2009 im Haus der Demokratie in Berlin gehalten.

Die andere Tendenz, und die sich in ihr ausdrückende Absicht reicht weit, betrifft eine neue Verortung des Endes der Zweiten Weltkriegs, des 8. Mai 1945, in der Europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Tag wird zu einem Teilschritt in das Reich der Freiheit herabgestuft. Die Sprache der Bischöfe vom 25. August 2009 sagt das so: das »Glück«, auch das der Deutschen, sei an diesem Tage sehr unterschiedlich verteilt gewesen. Ganz wäre es allen Europäern erst 1989 zu teil geworden. Sein Hereinbrechen wird auf den Moment datiert, da die DDR die Kontrolle ihrer Grenzen aufgab. Es fällt nicht schwer, diesen Ansatz weiter zu denken und jenes kontinentale Geschichtsbild sich vorzustellen, in dessen Zentrum Germania den Europäern nicht das Schwert zeigt, sondern ihnen die Freiheitsfahne voran trägt, Glücksbringerin mit Führungsanspruch.