Ideologie des Vergleichs

geschrieben von Prof. Moshe Zuckermann, Historiker und Philosoph, Tel Aviv

5. September 2013

Kurzer Abriss aus philosophisch-methodologischer Sicht

März-April 2010

Bis hin zur infolge der Vereinigung beider deutscher Staaten in den 1990er Jahren vorgenommenen Ersetzung der »braunen« durch die »rote Vergangenheit«, greift man noch heute stets auf diesen bewährten Taschenspielertrick zurück, wenn es darum geht, (neo)liberaler Weltsicht Kontur und Stringenz zu verleihen.

Ernst Bloch sagte einmal: »Sowjetischen Marxisten wurde Marx zum Platoniker […], mit einer solchen Reinheit der Idee, und bloß der Idee, dass einem schlecht werden könnte vor solchem Idealismus unter der Maske von Materialismus, von Praxis.« Wie wahr. Man könnte auch sagen, dass sie die Loslöser des Überbaus von der Basis waren – und noch im Namen des Marxismus. Der Grund hierfür lag nicht in subjektiv bösartiger Intention, sondern rührte von einem objektiven Strukturproblem her, welches Bloch genau erkannte:

»Das kann mit dem Boden zusammenhängen, einem Boden, der durch keine bürgerliche Revolution genährt war, der seit der Teilung des ost- und weströmischen Reiches im Jahre 396 immer ferner rückte, der keine Scholastik kennt, keine Renaissance, keine Probleme der Reformation, keine Aufklärung, kein 1789. Auf den Zarismus wurde unvermittelt das kühnste, modernste, zukunftshaltigste Projekt aufgesetzt: der Marxismus, die proletarische Revolution. Hier wurde ein Dach auf den Boden gesetzt, die erste Etage und die zweite fehlen völlig: wo sind da Zimmer und Räume möglich? War es da nicht ganz gesetzmäßig, um einen üblichen Ausdruck der vulgären und schematischen Orthodoxie zu gebrauchen, dass sich Theorie in dieser Praxis bis zur Unkenntlichkeit verändern musste? Wäre dasselbe in einem westeuropäischen Land eingetreten?« Eindeutig kann dies nicht beantwortet werden, aber bei der Idee, dass die proletarische Revolution im zaristischen Russland ausbrechen sollte, hätte sich Marx gewiss entsetzt. Dazu kommt noch: Nicht ausgeschlossen, dass sie sich in keinem westeuropäischen Land ereignet hat, gerade weil sie vorzeitig in der unwahrscheinlichsten Region ausgebrochen war. Wahrlich – eine Tragödie in welthistorischem Maßstab.

Was Bloch gerade als Marxist so prägnant erfasste, haben westliche Antimarxisten, allen voran Hannah Arendt, nie zu begreifen vermocht. Sie reihten sich ein in die ideologische Tradition, welche sich von der im Westen der 1950er Jahre während des Kalten Krieges konzipierten Totalitarismustheorie, die generell jeglichen Links- und Rechtsradikalismus in einen konzeptuellen Topf warf, über das Ernst-Noltesche Denkmodell der 1980er Jahre, das die Unsäglichkeiten des Nationalsozialismus mit der Bedrohung durch den sowjetischen Bolschewismus relativiert wissen wollte.

Nun bedarf es keiner allzu großen geistigen Anstrengung, um zu begreifen, dass man als Marxist konsequenter Kritiker des sowjetischen Regimes sein konnte, ohne dabei die marxistische Kritik des Kapitalismus auch nur im geringsten revidieren zu müssen. Man kann aber schlechterdings kein Nationalsozialist sein und zugleich dem NS-Regime abschwören: Während sich der Marxsche Kommunismus noch nirgends in der Welt manifestiert hat – der sogenannte »real existierende Sozialismus« war ja keiner -, hat sich der Hitler-Staat als das vollzogen, was er von Anbeginn zu werden versprach. Ob dabei auch Auschwitz a priori mitkonzipiert war, spielt zunächst keine Rolle: Die innere Logik der nationalsozialistischen Ideologie konnte ein Auschwitz aus sich heraus entstehen lassen; der Logik der Marxschen Klassenkampftheorie inhäriert der Gulag hingegen mitnichten. Es wäre an der Zeit, sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, dass der Marxismus eine Theorie der Emanzipation des Menschen von den historisch entstandenen sozialen Strukturen der Ausbeutung, der Unterdrückung und der Entfremdung bietet, wohingegen der Nationalsozialismus seinem Wesen nach primär eine Ideologie der (auf einem Führerprinzip basierenden) Herrschaft, der Rassenhierarchie, des Antisemitismus, der »Volkshygiene«, der realen Verfolgung und Ausrottung des abstrakt konzipierten »Feindes« darstellt.

Man kann sicher einwenden, dass es sich letztlich gleich bleibt, was eine Idee, eine Lehre, eine Theorie im Ursprung meint; allein die Tatsache, dass man in ihrem Namen Verbrechen begehen kann (bzw. konnte), zähle, und diese reiche schon hin, um sie zu diskreditieren. Man sollte dann aber konsequent bleiben: Im Namen des Christentums sind Menschen ermordet worden; im Namen des Islams ist gemetzelt worden; im Namen des Abendlandes (oder der »westlichen Zivilisation«) sind Völker unterdrückt worden. Vor allem aber: Im Namen des seit geraumer Zeit nicht mehr so benannten, mal als Liberalismus, mal als Neoliberalismus, mal als Zivilgesellschaft, mal als Globalisierung auftretenden, gleichwohl stets zäh fortwaltenden Kapitalismus sind Generationen über Generationen von Menschen ausgebeutet, unterdrückt, geschunden und auch ermordet worden. Dass unter seiner Obhut sowohl der von ihm seinerzeit getragene Nationalsozialismus als auch der ihn bekämpfende Marxismus (bzw. Kommunismus) als gleichsam symmetrische Feinde attackiert werden können, gehört zur feinsinnigen Ironie der Geschichte, macht aber auch die immanente Logik seiner Ideologie aus. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob eine im Missbrauch der Idee ihr Wesen erblickende, mithin alle historisch begangenen Missbräuche in Verhältnis zueinander setzenden Weltsicht sich nicht dazu eigne, Auschwitz solchermaßen zu relativieren, dass sie sich selbst als neuerlicher Missbrauch, namentlich als eine die Monstrosität heteronom instrumentalisierende Ideologie erweisen mag.