Nach dem Verfassungsschutz

5. September 2013

»Die Auflösung der Ämter wäre eine Wohltat«. –
Von Claus Leggewie und Horst Meier

Jan.-Feb. 2013

Auch Grüne für Auflösung

»Wir schlagen die Auflösung des Bundesamtes für Verfassungsschutz und einen institutionellen Neustart vor«, heißt es in einem Beschluss der Bundestagfraktion von Bündnis90/Die Grünen vom 27.11.2012. Neu gebildet werden sollen an Stelle des Verfassungsschutzes ein »unabhängiges ‚Institut Demokratieförderung’» sowie eine »Abteilung ‚Inlandssaufklärung‘ » im Bundesinnenministerium, deren Aufgabenbereich sich auf Bestrebungen zu beschränken habe, die sich gegen die Grund- und Menschenrechte, gegen Grundsätze der Verfassung und gegen das friedliche Zusammenleben der Völker richten und dabei die Anwendung von Gewalt vorsehen.

Gleichzeitig wird in dem Beschluss die Auflösung des MAD gefordert.

Selbstbewusste Demokratie funktioniert ohne Verfassungsschutz. Sie besinnt sich auf die Abwehr konkreter Gefahren und lebt im Übrigen mit den Unwägbarkeiten, die Freiheit auszeichnen. Gewiss, es gibt keine politischen Lebensversicherungen. Die deutsche Demokratie bleibt gefährdet, so wie jede Demokratie es allenthalben ist: Dies ist ihr Risiko, ihre Gefahr, aber auch ihre Ehre. Man muss durchaus wachsam sein; Wachsamkeit darf aber nicht umschlagen in paranoiden »Verfassungsschutz«. Ansonsten bleibt jedermann irgendeines anderen Verfassungsfeind. Denn wie wusste schon Karl Marx in seiner Polemik gegen die preußische Pressezensur von 1842: »Kein Mensch bekämpft die Freiheit; er bekämpft höchstens die Freiheit der anderen«

»Republikschutz« meint im strikten Gegensatz zum landläufigen Verfassungsschutz eine Theorie und Praxis, die aus dem Nebel der Prävention in die aufgeklärte Zone der Gefahrenabwehr gelangt.

Verfassungsschutz bekämpft seit eh und je verdächtige Ziele und anstößiges »Gedankengut«, also schon die Gesinnung vermeintlicher Verfassungsfeinde. Republikschutz dagegen bekämpft politisch motivierte Gewalttaten oder deren konkrete Androhung und nachweislich gefährliche Hasspropaganda, also erst das strafbare Verhalten von Verfassungsgegnern.

Dreh- und Angelpunkt des Republikschutzes ist somit das Gewaltkriterium. Es markiert die Grenze des politischen Wettbewerbs. Dieser Maßstab ist deshalb so wichtig, weil er nur mit einem präzise ausdifferenzierten Gefahrenbegriff gedacht werden kann. Von daher ist die Verknüpfung von (drohender) Gewalt mit einer situationsspezifisch nachzuweisenden Gefahrenlage ebenso rechtsstaatlich wie demokratiefreundlich.

Republikschutz ist politisch neutral, weil er nicht auf den (stets umstrittenen) »extremistischen« Inhalt von Politik abstellt, sondern gleichsam unideologisch auf die Form von Politik. Vollmundige Parolen gegen das System und andere Verbalradikalismen sind Teil der offenen, unabschließbaren Debatte: Der demokratische Staat darf keine politische Wahrheit, und sei sie noch so evident und gut gemeint, gegen Andersdenkende mit Zwang behaupten. Jene aber, die Gewalt ins Spiel bringen, und sei es für eine noch so gute Sache, darf der Staat in den Formen des Rechts unterdrücken, denn sie handeln per se »verfassungswidrig«.

Diese Grenzziehung ist einerseits rigide, weil sie keine Ausnahme vom Gebot der Friedlichkeit kennt; sie ist andererseits so tolerant, wie Liberalität nur sein kann. Denn sie bietet dem politischen Wettbewerb der Parteien und jedem Einzelnen im Meinungskampf ein Maximum an Freiheit.

Natürlich ist auch diese Grenzziehung in manchen Fällen nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick erscheint. Doch es ist ein Unterschied ums Ganze, ob man es mit den Abgrenzungsproblemen eines richtigen oder eines falschen Kriteriums zu tun hat.

Republikschutz plädiert daher dafür, sich auf die Tradition des bürgerlich-liberalen Verfassungsdenkens zu besinnen, das heißt auf das reformalisierte Verständnis einer »demokratischen Grundordnung«: kein Eingriff in Kommunikationsfreiheiten ohne clear and present danger. Denn alle Erfahrung zeigt: Je weiter sich ein (angeblich verfassungsschützendes) Denken vom Gewaltkriterium entfernt, desto bedenkenloser ist die dahinterstehende (meist unbewusste) Neigung, anstößige Meinungen, provozierende Kundgebungen und schrille Oppositionsparteien zu unterdrücken…

Es gibt viele Arten, die Verfassung zu schützen; keine davon braucht Ämter für Verfassungsschutz. Eine Verfassung der Freiheit ist sich selbst genug: »Wirksam kann sich die Freiheit nur durch sich selbst schützen« (Horst Dreier, Grenzen demokratischer Freiheit im Verfassungsstaat).

Heute können wir sicher sein, dass es die viel beschworene Sicherheitslücke nicht geben wird. Im Gegenteil, die Erkenntnisse der letzten Jahre zeigen: Die mit der Auflösung dieser Ämter einhergehende Reorganisation des polizeilichen Staatsschutzes wäre für die wirkliche Verfassung des Grundgesetzes eine Wohltat. Sie würde nachhaltiger zugunsten der Bürgerrechte wirken als die ganze Geheimdienstarbeit von sechs Jahrzehnten zusammengenommen…

Die Ämter für Verfassungsschutz können binnen fünf Jahren geordnet abgewickelt werden; fähiges Personal kann man in den polizeilichen Staatsschutz eingliedern. Dieser ist die seit jeher für politisch motivierte Straftaten zuständige »politische Polizei«.

Die Arbeit speziell ausgebildeter Kriminalbeamter greift nicht aus in ein diffuses Feld des »Extremismus«, sondern orientiert sich allein an der Verfolgung und Verhütung von Straftaten (in der Regel Gewalt- und ganz ausnahmsweise Propagandadelikte wie Volksverhetzung).

Die Abwicklung der Ämter wider den Extremismus markiert das überfällige Ende eines deutschen Sonderwegs: den Abschied von einer »streitbaren«, zaghaft-halbierten Demokratie, die ein vormundschaftlicher Staat gegen seine »Staatsbürger« verwaltet. Es gibt ein Leben nach dem Verfassungsschutz.