Passt nicht ins Geschichtsbild

geschrieben von Ulrich Schneider

5. September 2013

Sowjetische Augenzeugen berichten über Stalingrad

Jan.-Feb. 2013

Jochen Hellbeck, Die Stalingrad Protokolle, Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht, 608 S., S.Fischer-Verlag, Frankfurt/M. 2012, ISBN 978-3-10-030213-7, 26 Euro

Rechtzeitig zum 70. Jahrestag der Schlacht um Stalingrad, die durch die vernichtende Niederlage der faschistischen Truppen zweifellos eine entscheidende Wende im zweiten Weltkrieg darstellte, veröffentlichte der Historiker Jochen Hellbeck unter dem Titel »Stalingrad Protokolle« einen Band mit sowjetischen Augenzeugenberichten.

Im Jahre 2008 fanden er und russische Kollegen in Moskau den umfangreichen Bestand von Interview-Protokollen, die eine sowjetischen Historikerkommission unter Leitung von Isaak Minz 1942/43 zum Teil während der Kämpfe um Stalingrad gemacht hatten. In diesem Protokollen ging es im Kern um »das Werden des sowjetischen Menschen« im Großen Vaterländischen Krieg.

Im Beisein von Stenographinnen sprachen die Historiker mit hohen Offizieren und einfachen Soldaten, auch Bewohner der Stadt berichteten in aller Offenheit von ihren Erlebnissen. So dokumentiert Hellbeck auf gut 50 Seiten Auszüge aus deren Erfahrungen, insbesondere die massiven Folgen der Angriffe und Zerstörungen der deutschen Luftwaffe in Vorbereitung des faschistischen Vorstoßes.

Aus der großen Zahl der gefundenen Dokumente wählte der Historiker neun umfangreiche Interviews aus, nämlich mit Armeegeneral Wassili Tschuikow, Gardedivisionsgeneral Alexander Rodimzew, Krankenschwester Vera Gurowa, Leutnant Alexander Awerbuch, Regimentskommandeur Alexander Gerassimow, Hauptmann Nikolai Axjonow – im Normalberuf Geschichtsdozent -, Scharfschütze Wassili Saizew, dem einfachen Rotarmisten Alexander Parchomenko und Hauptmann Pjotr Sajontschkowski, einem Feindpropagandisten.

In all diesen Interviews ging es nicht nur um die unmittelbaren Erlebnisse an der Front, sondern auch um die Motivation der beteiligten Soldaten. Exemplarisch kann das am Interview von Pjotr Sajontschkowski gezeigt werden. Er beschwerte sich z.B., dass er als promovierter Akademiker anfangs in der Etappe verbleiben sollte: »Ich bin nicht zur Armee gegangen, um in Nowosibirsk herumzusitzen.« (S. 462) In aller Offenheit berichtete er auch über Probleme: »Ein Fehler unserer Operation im September, der sich natürlich mit keinerlei objektiven Umständen rechtfertigen lässt, war vor allem die miserable Zusammenarbeit von Panzern und Infanterie.« (S. 464) Auch über die Wirkung seiner eigenen Arbeit berichtete Pjotr selbstkritisch: »Generell kommt die soziale Propaganda, die das Hitlerregime entlarven will, nicht gut an, die Antikriegspropaganda dagegen kommt an.« »Unsere Flugblätter fanden wir bei Gefangenen, bei Toten. Dabei erzählten deutsche Kriegsgefangene, den stärksten Eindruck hätte auf sie das Flugblatt »Papi ist tot« gemacht. … Ein Gefangener hat mir erzählt, sein Kamerad hätte das Flugblatt mit einer Mitnahmegelegenheit nach Hause geschickt.« (S. 466)

Hellbeck grenzt sich mit dieser Perspektive insbesondere von jenen Veröffentlichungen ab, in denen das Thema der »einfachen Soldaten« »bisher nur aus deutscher Perspektive dargestellt worden ist«. Insbesondere wendet er sich gegen den deutschen Opfermythos, der um Stalingrad getrieben wurde. In einem Interview mit der »Zeit« erklärte Hellbeck: »Während der NS-Zeit hieß es, die Stalingrad-Kämpfer hätten ihr Leben für Volk, Reich und »Führers« gegeben. Danach deutete man ihren Tod zur Tragödie um: die Wehrmacht, an der Wolga zerrieben, von Hitler verraten. Wieder später wurden aus den einstigen Helden hilflose Menschen, die ins Getriebe des Krieges geraten waren. Die sowjetische Seite aber blieb stets außen vor. In stiller Kontinuität zur NS-Propaganda blenden auch viele jüngere Darstellungen die Rotarmisten als ›gesichtslose Untermenschenmasse‹ einfach aus.

Die Zeit: Im deutschen Gedächtnis beginnt die Schlacht denn auch erst am 19. November 1942.

Hellbeck: Mit der Einkesselung der 6. Armee, ja. Nur so lässt sich das deutsche Opferbild aufrechterhalten.«

Die »Stalingrad Protokolle« können dazu beitragen, dieses Geschichtsbild aufzubrechen. Es steht jedoch zu befürchten, dass dieses gut 600 Seiten starke Buch nur in der Fachwelt zur Kenntnis genommen wird – und auch bei einigen Fachhistorikern ist das alte »Feindbild Ost« nur schwer zu überwinden, wie bereits manche Rezensionen zeigen.