Populismus – was ist das?

geschrieben von Übersetzung aus dem Englischen: Cornelia Kerth

5. September 2013

Von Graeme Atkinson, Europa-Redakteur der Zeitschrift
„Searchlight“

Sept.-Okt. 2006

Der Beitrag ist ein gekürzter und zum Teil zusammengefasster Redebeitrag, den der Autor auf der internationalen Konferenz „60 + 1 Jahre Antifaschismus“ gehalten haben. Die Konferenz fand Mitte Mai 2006 im Europäischen Parlament in Brüssel statt. Ein Konferenzband mit allen Beiträgen ist in Vorbereitung.

In den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren haben sich in ganz Europa Rechtspopulismus und rechtspopulistische Parteien entwickelt. Wenn wir dieses Phänomen betrachten, so war diese Tendenz in einer Reihe von Ländern so stark, dass sie sich profilieren und in Organisationen niederschlagen konnte, die populistische Politik in parlamentarischen Institutionen auf verschiedenen Ebenen repräsentieren. Schematisch betrachtet kann man sagen, dass dies in Österreich, Italien, Belgien, Dänemark, Holland, Norwegen, Portugal und in der Schweiz der Fall ist und dass eine grobe Übersicht über diese Tendenz hilfreich sein könnte. In Österreich, Portugal und – bis vor kurzem – Italien, haben sich diese Parteien als Junior-Partner an rechten Regierungskoalitionen beteiligt. In Dänemark und Portugal sind Rechtskoalitionen mittlerweile massiv auf ihre Unterstützung angewiesen. Hier ein Überblick über die Parteien und ihre letzten Wahlergebnisse bei landesweiten Wahlen:

„Searchlight“ ist ein monatlich erscheinendes Magazin gegen Rassismus und Faschismus, das in Großbritannien erscheint, jedoch europaweit neofaschistische Bewegungen beobachtet und analysiert.

Italien: Alleanza Nazionale: 12 Prozent (für beide Kammern des Parlaments), Dänemark: Dänische Volkspartei: 13 Prozent, Holland: Liste Pim Fortuyn: 5,7 Prozent (gegenüber 19 Prozent 2002) Norwegen: Fortschrittspartei: 22,1 Prozent (in aktuellen Umfragen jetzt bei 30 Prozent), Portugal:Volkspartei: 7,3 Prozent (vorher 8,75 Prozent), Schweiz: Schweizer Volkspartei: 26 Prozent.

Die Versuchung, alle diese Organisationen in einen Topf zu werfen und das Etikett „rechtsextremistisch“ darauf zu kleben, ist groß. Doch es wäre sehr gefährlich, das zu tun. Wir müssen sogar innerhalb der politischen Kräfte differenzieren, die wir völlig zu Recht unter der Überschrift Rechtspopulismus zusammenfassen können.

Zum Beispiel der Vlaams Blok / Vlaams Belang (VB). Dabei handelt es sich um eine Partei, die zu Teilen aus einer gewalttätigen paramilitärischen Organisation – dem Vlaamse Militante Orde – entwickelt hat, die Anfang der 1980er Jahre in Belgien Aufstände auf den Straßen inszeniert hat und derart riesige Lager von Schusswaffen und anderer Bewaffnung angelegt hat, dass sie Mitte der 1980er Jahre verboten wurde. Der VB ist tatsächlich eine faschistische Partei, die sich hinter einer populisitschen Stategie versteckt.

Die FPÖ, ihrerseits, ist eine populistische Partei, die tief in Adolf Hitlers NSDAP wurzelt.

Die Alleanza Nazionale (AN) ist eine populistische Partei, die immer noch viele Merkmale des Faschismus trägt (nicht zuletzt in Person eines erheblichen Teils ihrer aktiven Mitglieder!) und in der direkten Nachfolge von Mussolinis Faschistischer Partei steht. Diese Parteien haben auf die eine oder andere Weise eine absolute und belegbare organische Verbindung zur faschistischen oder nationalsozialistischen Tradition.

Bedeutet dies, dass sie genauso sind wie die anderen Parteien, von denen am Anfang die Rede war? Das ist nicht der Fall, weil die anderen Parteien in dieser Liste ihren Ursprung innerhalb des politischen Mainstreams haben und wesentlich als Abspaltungen Unzufriedener von konservativen oder liberalen Parteien entstanden sind. Aus diesem Grund gehen diese Parteien im Allgemeinen keine Kooperation mit Parteien wie dem VB, der FPÖ und AN, die ihre Wurzeln oder organische Verbindung mit dem Faschismus haben, ein. Sie neigen sogar dazu, sich solchen Ansinnen zu widersetzen. (Als Ausnahme von dieser Regel gab es kürzlich Kontakte zwischen der Dänischen Volkspartei und den Hardcore-Rassisten der Schwedischen Demokraten) Wem das bisher nicht so aufgefallen ist, der sei nur an die kränkenden Reaktionen der „neuen“ populistischen Parteien nach dem Erfolg von Jean-Marie Le Pen in der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahlen von 2002 erinnert. Sie waren äußerst bemüht, sich von jeder Art der Beziehung oder Verbindung mit der Nationalen Front in Frankreich zu distanzieren.

Die Vorstellungen und die Politik all dieser Parteien haben Gemeinsamkeiten in zwei Hauptthemen: 1. Einwanderung / Asyl / Islamophobie und 2. Law and order (Recht und Ordnung). Darüber hinaus gibt es Annäherung im Bereich der Steuern, weil dies ein zentrales Kampagnenthema der rechtspopulistischen Parteien in Europa ist. Die populistischen Parteien in Dänemark, Holland, Norwegen, Portugal und der Schweiz sind am rechten Rand angesiedelt, aber trotz ihrer Begeisterung für eine harte Linie in den oben genannten Politikfeldern sind sie keine faschistischen, ja nicht einmal autoritäre Parteien. Abgesehen von diesen beiden Themenkomplexen haben sie mehr Gemeinsamkeiten mit Rechtskonservatismus und Ultraliberalismus als mit Faschismus und traditionellem Rechtsextremismus. Es kann sicher gesagt werden, dass sie bei weitem mehr von Margaret Thatcher und Milton Friedman geprägt sind als von Hitler und Mussolini.

In Fragen der Wirtschaft und bei vielen sozialen Themen sind sie ultraliberal, fanatische Verfechter des unbeschränkten Marktes und widersetzen sich jeder Form von staatlicher Regulierung und Eingriff. Sie sind nicht totalitär. Ihre Ideologie enthält kein Konzept der „Massen“ und ist stark auf das Individuum konzentriert. Sie sind nicht gewalttätig. Da sie sich selbst als die wirkliche Verkörperung des Mainstreams sehen, setzen sie nicht auf gewalttätige Veränderung. Sie sind nicht antiparlamentarisch oder antidemokratisch. Sie sind, allerdings und vor allem, politische Opportunisten und arbeiten nicht auf der Grundlage klar ausgearbeiteter Programmen, sondern saugen wie politische Staubsauger „populäre“ Missstimmungen, Ressentiments und Sorgen auf. Sie sind in der Lage, im parlamentarischen Rahmen zu handeln und Allianzen mit vorhandenen Mainstream-Konservativen und- Liberalen zu schmieden.

Im Juni 2005 schaffte die Enkelin des italienischen „Duce“, Alessandra Mussolini, mit einem Bündnis aus rechtsextremen Splitterparteien des Einzug ins Europaparlament. Zuvor war sie 2003 aus der Alleanza Nazionale des Gianfranco Fini ausgetreten, weil dieser bei einem Israel-Besuch den Faschismus verurteilt hatte. Daraufhin schloss sie sich dem Bündnis Alternativa Sociale an. Dem Bündnis gehören Gruppen mit terroristischer Vergangenheit wie Forza Nuova und Fronte Sociale Nazionale an.

Das vorrangige Ziel der Rechtspopulisten ist, aus dem populären (Vor-)urteil und der zunehmenden Realität, dass die traditionellen Mainstream-Parteien alle gleich sind, sowie aus der abnehmenden Wahlbeteiligung überall in Westeuropa Kapital zu schlagen.

Mit dem Anwachsen dieses Demokratie-Defizits wird das Wahlverhalten derjenigen, die noch zur Wahl gehen unbeständiger und weniger vorhersehbar. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist, dass Rechtspopulisten im Allgemeinen nicht über eine rassistische Ideologie verfügen, obwohl sie den so genannten „alltäglichen Rassismus“ geschickt manipulieren und instrumentalisieren. Sie sind alle anti-muslimisch, aber – mit Ausnahme des VB und der FPÖ – ist Antisemitismus für sie ein totales Tabu. Es muss auch gesagt werden, dass ihr Anti-Islamismus, der vollständig mit ihrer Einwanderungs- und Asyl-Politik verwoben ist, schon vor dem 11. September 2001 ausgeprägt war.

Derzeit existiert überall in Europa ein tief verwurzeltes Problem kultureller Diskriminierung und eine weit verbreitete Weigerung zu akzeptieren, was es bedeutet, eine multiethnische, multikulturelle Gesellschaft zu sein. In diesem Sinne bewegen sich die populistischen Parteien wie Sonnenblumen auf den alltäglichen Rassismus zu, ohne eine rassistische Ideologie zu besitzen. Der Aufschwung dieser Art populistischer Politik hat zwei wesentliche Konsequenzen: Sie verschiebt eine sich bereits nach rechts verschiebende politische „Mitte“ weiter nach rechts. Sie legitimiert die rassistische Propaganda der weiter rechts stehenden Kräfte, namentlich der Faschisten und Nazis und verschafft ihr Ansehen.

Die populistischen Kräfte lassen sich schwer bekämpfen, weil sie sich durchaus als fähig erwiesen haben, den politischen Raum zu besetzen und die politische Basis zu erobern, die früher der traditionellen Linken, in Besonderheit der Sozialdemokratie anhing. Weil die Sozialdemokraten sich von der Arbeiterklasse und der unteren Mittelklasse abgewendet haben, haben die Populisten den Versuch unternommen, in diese Lücke einzudringen und sie zu füllen. Dabei bemühen sie sich, die Ängste und Sorgen der „einfachen“ Leute anzusprechen. Darauf hat das ganze linke Spektrum noch keine Antwort gefunden. Selbst wenn die Unterstützung für die Populisten zurückgeht, profitiert davon in der Regel die konservative und liberale Rechte und nicht die Linke.

Die antifaschistischen und antirassistischen Bewegungen würden einem katastrophalen Irrtum unterliegen, wenn sie den Rechtspopulismus in seiner gegenwärtigen Erscheinungsform mit Faschismus und Nazismus verwechseln würden. Die Aufgabe besteht darin, den Rechtspopulismus auf seinem eigenen Gebiet zu schlagen. Der Versuch, ihm das Etikett „Nazi“ oder „Faschist“ anzuhängen wird uns nur diskreditieren, weil die Unterschiede zwischen „ähnlichen“ politischen Tendenzen oft genau so wichtig sind wie ihre Ähnlichkeiten.