Provokation aus Brüssel

geschrieben von Die Fragen stellte Regina Girod

5. September 2013

Gespräch mit Ulrich Schneider über Geschichtsrevisionismus im
EU-Parlament

Nov.-Dez. 2008

Frühere jüdische Partisanen, die gegen die Nazi-Besatzer gekämpft haben, sind in Litauen Ziel einer diskriminierenden staatsanwaltschaftlichen Ermittlung. Seit fast einem Jahr ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen angeblicher Kriegsverbrechen, die von Partisanen während des Zweiten Weltkrieges begangen worden sein sollen. Auf den Vernehmungslisten der Staatsanwaltschaft stehen ausschließlich jüdische Namen. Formal richten sich die Ermittlungen gegen »Unbekannt«, die früheren Kämpfer sollen als Zeugen gehört werden. Dabei wird ihnen unterstellt, sie hätten Kenntnis von behaupteten Verbrechern ihrer Mitkämpfer. Bezeichnend ist, dass Litauen bislang keinerlei Aktivitäten unternommen hat, die zahlreichen einheimischen Nazi-Kollaborateure vor Gericht zu bringen.

antifa: Im Europäischen Parlament werden auf Initiative der Europäischen Volkspartei, in der die CDU eine zentrale Rolle spielt, Unterschriften für einen Antrag gesammelt, den 23. August zu einem »Gedenktag an Opfer stalinistischer und nazistischer Verbrechen« erklärt werden. Was ist davon zu halten?

Ulrich Schneider: Dieser Antrag ist ein ideologischer Generalangriff auf das historische Fundament der europäischen Nachkriegsentwicklung. Zunächst einmal demonstriert er die Totalitarismus-These in Reinform, die von einer ahistorischen Gleichsetzung von Stalinismus und Faschismus ausgeht. Schon vor einigen Jahren versuchte ein »Schwarzbuch des Kommunismus« nachzuweisen, dass die sozialistischen Versuche in den osteuropäischen Ländern von gleicher verbrecherischer Qualität gewesen seien, wie der Faschismus, insbesondere der deutsche.

In der Konsequenz bedeutet dies nicht nur eine historisch falsche Gleichsetzung zwischen faschistischer Diktatur und verschiedenen sozialistischen Herrschaftsformen, sondern eine Umkehrung der politischen Gewichtungen und damit eine Verharmlosung und Relativierung der faschistischen Vernichtungspolitik. Das leugnen die Initiatoren des Antrags auch gar nicht. Geht es ihnen doch darum, so wörtlich, den Schwerpunkt des Gedenkens auf die »Auswirkungen und die Bedeutung der Sowjetzeit sowie der Okkupation« in den »postkommunistischen Ländern« zu legen. Perfide ist der Antrag insbesondere durch das vorgeschlagene Datum des »Gedenktages«. Was war am 23. August? Es ist das Datum der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages 1939 zwischen dem Außenminister des faschistischen Deutschlands, Ribbentropp, und dem Außenminister der UdSSR, Molotow. Jeder historisch Bewanderte weiß, dass diesem Vertrag das Bemühen der UdSSR voranging, mit den Westmächten ein Bündnis gegen die faschistische Kriegspolitik zu schmieden. Als die-se ohne Erfolg blieben, kam es zu dem Vertragsschluss, mit dem die Sowjetunion Zeit gegen einen möglichen militärischen Angriff des deutschen Faschismus gewinnen wollte.

antifa: Aber der Nichtangriffsvertrag war doch, wie wir heute wissen, ziemlich problematisch?

Ulrich Schneider: Natürlich. Mit den Zusatzabkommen wurden weiterreichende Vereinbarungen getroffen, die sogar zur Auslieferung von antifaschistischen Emigranten an Nazi-Deutschland führten. Aus heutiger Perspektive spricht auch einiges dafür, dass die UdSSR die gewonnene Zeit nicht wirksam nutzte, ihre Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Aus antifaschistischer Sicht sind das deutliche Kritikpunkte.

Doch all das reicht nicht aus als Begründung, den Jahrestag der Unterzeichnung zum »Totalitarismus-Gedenktag« zu machen. Denkt man das weiter, käme man zu der These, dass Deutschland und die UdSSR für den Zweiten Weltkrieg und die Opfer der faschistischen Vernichtungspolitik gleichermaßen verantwortlich seien.

Eine völlig unhaltbare Position! Sie versucht, eine zentrale Grundlage der europäischen Nachkriegsentwicklung, das gemeinsame Handeln der Völker und Staaten in der Anti-Hitler-Koalition für die Befreiung ihrer Ländern von der faschistischen Bedrohung, zu leugnen und zu verdrängen. Neben der Verstärkung der antikommunistischen Attitüden scheint mir das überhaupt das zentrale Anliegen dieser Provokation zu sein.

antifa: Warum kommt dieser Vorstoß gerade jetzt im Europäischen Parlament?

Ulrich Schneider: Das Europäische Parlament hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder bewusst antifaschistisch positioniert: Ich erinnere an den Beschluss des Europaparlaments, den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee, zu einem europäischen Gedenktag für alle Opfer faschistischer Verfolgung zu machen.

Ich erinnere an den Beschluss des Parlaments von 1993 über die Bewahrung der historischen Orte der faschistischen Verfolgung und Vernichtungspolitik. Ausdrücklich wurde in diesem Beschluss eine Verbindung dieses Gedenkens mit der Erinnerung an andere Formen politischen Unrechts abgelehnt.

Es wäre schon von zentraler politischer Bedeutung, wenn es gelänge, diesen antifaschistischen Konsens im europäischen Parlament zu zerstören.

antifa: Wie steht die FIR zu dem Antrag, was setzen die antifaschistischen Verbände in Europa gegen diese Provokation?

Ulrich Schneider: Als Generalsekretär der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR)-Bund der Antifaschisten bin ich sehr froh, dass verschiedene Mitgliedsverbände, u. a. aus Griechenland, bereits deutliche Erklärungen abgegeben haben.

Ich hoffe und erwarte, dass weitere Mitgliedsverbände in Noten und Erklärungen ihre jeweiligen Europaabgeordneten auffordern, von der genannten Resolution Abstand zu nehmen. Die Totalitarismus-These ist ein Produkt des »Kalten Krieges« und kann keine Grundlage für ein zukünftiges Europa sein.