Stigma »asozial«

geschrieben von Dirk Stegemann

5. September 2013

Gedenken an die Aktion »Arbeitsscheu Reich« vom 13. Juni
1938

Juli-Aug. 2010

Am 13. Juni 2010 jährte sich zum 72. Mal die Durchführung der Aktion »Arbeitsscheu Reich« durch die Kriminalpolizei von 1938. Der Berliner Arbeitskreis »Marginalisierte – gestern und heute« nahm den Tag zum wiederholten Mal zum Anlass, an diese Aktion zu erinnern. Sie stellte den offiziellen Beginn der »Asozialenverfolgung« durch die Nazis und den Tiefpunkt einer z.T. jahrhundertelangen Ausgrenzungspolitik gegenüber stigmatisierten und kriminalisierten sozialen Gruppen dar. In Verbindung mit der Biologisierung und Medizinisierung der sozialen Frage über Rassentheorie und Eugenik wurde die »Reinigung des Volkskörpers« durch Verfolgung, Verhaftung, Deportation, Sterilisation, Zwangsarbeit bis hin zur Ermordung von »Volksschädlingen« bzw. »Asozialen« legitimiert. Opfer waren z. B. Wohnsitzlose (sog. Obdachlose), Bettler, Prostituierte, Homosexuelle, Sinti und Roma, Alkoholiker, aber auch Menschen die als »unangepasst«, »un- bzw. minderwertig«, »unnütz«, »unerziehbar«, »arbeitsunwillig« o.ä. galten.

In ihrem Eröffnungsbeitrag verwies die linke Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke darauf, dass von den über zehntausend »Asozialen« nur 203 »Härtefälle« jeweils 5000 DM Entschädigungszahlungen für ihren langen Aufenthalt in einem Konzentrationslager erhalten haben; eine Rehabilitierung steht bis heute aus.

Der AK »Marginalisierte« , stellt sich die Aufgabe, den 13. Juni als Gedenktag zur Erinnerung an diese weitgehend vergessenen Opfer zu etablieren. Auch, um die überfällige Aufarbeitung des Nazi-Unrechts, welches als solches bis heute nicht anerkannt ist, zu fordern. Eine Gedenkstätte für die als »asozial« Verfolgten gibt es bis heute nicht. Als zentraler Ort hätte sich das ehemalige Arbeitshaus Rummelsburg in Lichtenberg angeboten, vor dem auch diesmal die Veranstaltung stattfand. Dieses steht singulär für einen »zentralen Ort der Verfolgung von sogenannten Asozialen während der NS-Zeit in Berlin«, wie der anwesende Historiker Thomas Irmer erklärte. Doch auch hier zeigt sich der Drang, aus guten Lagen Kapital zu schlagen. Denn das Areal ist immobilientechnisch ein Filetstück. Geschichte wird da eher als störend empfunden, ja als Profit schmälernd. Es ist symptomatisch, wenn in Werbeprospekten Luxuswohnungen im ehemaligen Arbeitshaus / Gefängnis Rummelsburg völlig enthistorisiert als in »einem historisches Backsteinensemble« gelegen, beworben werden, das »in wunderbarer Weise Citynähe mit einem hohen Maß an Lebensqualität und Ruhe einer innerstädtischen Wasserlage im grünen Herzen Berlins« verspricht. So wird unbequeme Geschichte dem Vergessen preisgegeben und entsorgt.

Dabei könnte das ehemalige Arbeitshaus durchaus auch in die Gegenwart wirken und Kontinuitäten und Brüche in der Geschichte sozialer Ausgrenzung bis zum heutigen Tage aufzeigen.

So ist auch heute die Beschimpfung als »asozial« entkontextualisiert und in unzutreffender Weise gleichgesetzt mit »unsozial« oder »gegen die Gesellschaft gerichtet« in aller Munde, wird das Stigma benutzt, wenn im »Bild«-Niveau über die sozialen Opfer der Konkurrenzgesellschaft hergezogen wird. Kein Wunder: Gerade in Krisenzeiten verschärft sich der Ton; der Ton, der in und durch Politik, Medien und Gesellschaft die propagandistische Begleitmusik für Ausgrenzung und Rassismus ist und die Neubelebung stigmatisierender Zuschreibungen insbesondere gegen die so genannten Verlierer der »Leistungsgesellschaft« befördert. Im Mainstream geht es darum, soziale Probleme der Gesellschaft allein den Betroffenen zur Last zu legen. Und wenn sie selbst schuld sind an ihrer Situation, müssen sie auch die Folgen selber tragen. Sinn und Zweck ist somit die Entsolidarisierung gesellschaftlicher Gruppen, die sich je nach Situation mal gegen Hartz IV-Empfänger, mal gegen Migranten, mal gegen Menschen mit Behinderungen, mal gegen ältere Menschen, mal gegen Menschen anderer sexueller Orientierung, mal gegen Arbeitsunfähige oder auch gegen Menschen richtet, die der Verwertungslogik des Kapitalismus und dem Leistungsdruck dieser Gesellschaft nicht folgen können oder wollen. Typisch für eine Gesellschaft, in der das Prinzip der Verwertbarkeit von Menschen herrscht. Da bleiben Solidarität, Gleichheit, Gerechtigkeit und Humanität zwangsläufig im »Säurebad der Konkurrenz« (Karl Marx) auf der Strecke. Und in einer Gesellschaft, die sich nicht gerade auch im Umgang mit jenen beweist, die von der postulierten Norm abweichen, ist es mit der Humanität und Demokratie nicht weit her. Dort bleiben Stigmatisierungen und Kriminalisierungen Mittel und Zweck zur Legitimierung von sozialer Ausgrenzung.