Überholt oder aktuell?

5. September 2013

Kurt Pätzold über Wege und Irrwege des Antifaschismus

Mai-Juni 2007

Professor Dr. Kurt Pätzold ist Historiker und lebt in Berlin. Der hier abgedruckte Text ist eine gekürzte Fassung seines Referates »Wege und Irrwege des Antifaschismus«, das er am 24. 2. 07 auf der Landesmitgliederversammlung der VVN-BdA Bayern in Dachau gehalten hat.

Die Ermittlungen der Bertelsmann-Studie stuften 56 Prozent der BRD-Bürger in die Kategorie nicht antisemitisch ein, während 44 Prozent sich der nicht zurechnen ließen und 15 Prozent eindeutig die Zuweisung zu den Antisemiten verdienten. 40 Prozent der Befragten meinten, der Faschismus habe auch gute Seiten aufgewiesen, ein Urteil, das sich bei einem erheblichen Teil nicht auf eigene Erfahrungen oder seinerzeit gewonnene Vorteile stützen kann. Und eine Mehrheit der Deutschen plädiert, was den »Nationalsozialismus« angeht, für den Schlussstrich, 60 Prozent in den alten und immerhin schon 50 Prozent in den Neuen Bundesländern.

Einer der jüngsten Versuche, in einer sächsischen Stadt unternommen, bestand darin, in deren Mitte auf dem Markt nach dessen Renovierung an die Stelle einer früheren eine Tafel mit der Aufschrift anzubringen: »An dieser Stelle wurde im Jahre 1961 eine Gedenkstätte geschaffen. Sie wurde vom Dresdner Bildhauer Wilhelm Landgraf gestaltet. Die Nationalsozialisten hatten 1933-1934 auf der Burg ein Schutzhaftlager errichtet. Das Ehrenmal ist den inhaftierten Opfern gewidmet. Von der SED war hier ein zentrales ›Isolierungslager‹ für politisch Andersdenkende des Bezirkes Dresden geplant, das jedoch nie zur Ausführung kam.« Im Gewande der Erinnerung an den Faschismus wird in Wahrheit auf die Verbreitung antisozialistischer Haltungen gezielt.

Zu den heftig bekämpften Vorschlägen gehört insbesondere der, den Nazis durch Ignoranz zu begegnen. Er wird mit Unterschätzung, Untätigkeit, womöglich auch Mangel an Mut derer gleichgesetzt, die ihn empfehlen. Wie aber mag es auf aufmarschierende Kleingruppen von Nazis wirken, wenn sie durch eine zu dieser Stunde absichtsvoll tote Stadt ziehen, in der womöglich aus Fenstern lustige Weisen schallen oder bunte Fahnen wehen? Vielfach stärken sich die Burschen und Maiden doch gerade auch an der Aufmerksamkeit, die sie selbst als kleine Häuflein erregen. Das befriedigt sie, gibt ihnen Bedeutung.

Seit die Faschisten am Beginn der 20er-Jahre in Deutschland, Italien und weiteren europäischen Staaten hervortraten, regten sich ihre Gegner, die bald auch Antifaschisten genannt wurden und sich selbst so nannten. Und seit es diese gibt, existiert unter ihnen eine mitunter in heftige Auseinandersetzungen führende Debatte darüber, wie die Faschisten erfolgreich zu bekämpfen seien. In Deutschland erhielt diese Auseinandersetzung durch die Erfahrungen des Jahres 1932/1933 die kräftigste Nahrung. Ein Grund für das Dafür und das Dawider bestand bereits in den unterschiedlichen Antworten auf die Frage: Wer sind die Faschisten und woher kommen sie eigentlich in die geschichtlichen Kämpfe. Woher beziehen sie ihren Anhang? Die Reihe des Aufzuklärenden setzte sich dann fort: Wer sind ver-lässliche Verbündete im Kampf gegen die Faschisten und wer gehört womöglich nur zu den zeitweiligen Gefährten? Welche Rolle spielt die ideologische, welche die politische Konfrontation? Wie verhält sich die Auseinandersetzung mit den Faschisten zu der ebenfalls notwendigen mit anderen Gegnern? Was heißt, den Faschismus mit den Wurzeln beseitigen? Und was eint Antifaschisten über das Anti hinaus, was ist ihr Pro?

Diese Fragenreihe zeigt, dass es nicht eine besondere Streitlust der Antifaschisten ist, die sie mitunter heftig gegeneinander stellt. Die Antworten, die gesucht werden, betreffen eine komplizierte Materie und sie lassen sich, da die geschichtlichen Situationen wechseln, auch nicht ein für alle Mal geben und dann in einen zeitlosen antifaschistischen Katechismus fassen. Dennoch liefert die Geschichte antifaschistischer Kämpfe Denkstoff die Menge und dies allein, wenn man sich fragt, warum Antifaschisten so oft nicht zu gemeinsamer Aktion finden konnten. Der Standpunkt des großen Hegel, die Geschichte habe vor allem gezeigt, dass man aus ihr nichts zu lernen vermöge, ist nicht der meine. Sie belehrt uns zumindest über die Folgen, die unvermeidlich eintraten, wenn Menschen sich auf die eine oder andere Weise verhielten.

Die Beschäftigung mit der Geschichte und die Berufung auf ihre »Lehren« hat etwas von einer Bekanntschaft mit einer Verführerin. Zwei Gefahren lauern. Die eine rührt daher, dass geschichtliche Erfahrungen ein »Verfallsdatum« haben, nur dass dies ihnen nicht wie manchen Lebensmitteln aufgedruckt ist. Das besagt: die Verhältnisse können sich so weit ändern, dass das Erfahrungsmaterial der Vorfahren vollständig entwertet ist. Dann ist Geschichte ganz und gar zur Asche geworden. Wird dann dennoch auf sie zurückgegriffen, ist der -Misserfolg das Ergebnis. Wer heute, um es auf eine auch strittige Frage zuzuspitzen, die Weltveränderung auf die Erfüllung der »historischen Mission der Arbeiterklasse« gründet, hat den gesellschaftlichen Strukturwandel des 20. Jahrhunderts weitgehend verpasst. Die Frage nach dem historischen Subjekt umwälzender Veränderung muss neu gestellt und beantwortet werden. Die andere Gefahr ergibt sich daraus, dass Handelnde eben dieses historische Rohmaterial für veraltet und vollkommen unbrauchbar halten, während in Wahrheit die Zustände sich so weit noch gar nicht gewandelt haben. Dann müssen missachtete Erfahrungen noch einmal gemacht, muss das unvermeidliche Lehrgeld noch einmal entrichtet werden. Der letztgenannte Fall scheint im Jahre 2007 von besonderem Interesse.

Weithin gelten Erfahrungen der Großelterngeneration heute den Jungen als der »Schnee vom letzten Jahr«. Die Demokratie im Lande scheint ihnen gefestigt und ungefährdet und die Nazis als eine Randerscheinung. Besondere Besorgnisse um die Zukunft seien daher überflüssig. Die aktiven Antifaschisten gelten ihnen womöglich als eine ehrbare, aber doch eigentlich irgendwie merkwürdige Truppe, geleitet von überflüssigen politischen Ängsten oder fixiert auf Schreckensszenarien für die Zukunft. Hitler ante portas? Ein Gespenst düsterer Denker, nicht der Wirklichkeit. Damit haben die Antifaschisten ihr erstes Problem. Sie müssen ihre Überzeugung glaubhaft machen, dass wir den Zeiten, die Hitler, Mussolini, Franco und die anderen Faschistenführer geboren haben, die aus kleinen Trupps Massenbewegungen machten, aus Rand- Zentralerscheinungen der Geschichte, nicht entronnen sind. Das erfordert einigen Erklärungsaufwand über die gegenwärtigen Weltzustände.

Es genügt nicht, darauf zu verweisen, dass sich vier Jahre vor dem folgenschweren Ereignis des 30. Januar 1933, Anfang 1929 also, kaum jemand Hitler in der Wilhelmstraße und als Reichskanzler denken mochte. Damit allein ist die überraschende Möglichkeit einer Wiederholung nicht bewiesen. Geredet werden muss, mit Brecht zu sprechen, von den Eigentumsverhältnissen und den aus ihnen hervorgehenden Interessen, denn es waren verfochtene Interessen, die den Faschismus 1933 an die Macht brachten.

Der 30. Januar 1933 ist ein Lehrbeispiel dafür, dass die Mächtigen der kapitalistischen Gesellschaft deren politische Struktur stets unter pragmatischen Aspekten sehen, den Gesichtspunkt eigenen Vor- und Nachteils wählen und danach entscheiden, für welche Ausprägung dieser Zustände sie eintreten. Sie entschieden sich in Deutschland für die Nazis, als ihnen die Republik, die sie nach der Revolution 1919 und als deren Gegengift favorisiert hatten, nicht mehr taugte. Dabei existiert zwischen einer ökonomisch-politischen Krisenlage der Herrschenden und ihrer Antwort darauf keineswegs eine gesetzmäßige Beziehung, die sie zum Übergang zu faschistisch-diktatorischen Praktiken zwingen würde. Bei gleicher oder ähnlicher Situation können die Antworten sehr verschieden ausfallen, wie gerade auch die Große Krise 1929-1932/33 mit den unterschiedlichen Entwicklungen in Deutschland, Frankreich oder den USA zeigt. Der Faschismus bildet nicht, wie in manchen linken Kreisen angenommen wurde, den Idealtypus kapitalistischer Herrschaft. Jedoch: Ein Narr, wer in diesen Kreisen Herzensmonarchisten, Herzensrepublikaner, Herzensfaschisten sucht. Wandeln sich die Zeiten, wandeln sich die Situationen, wandeln sich dort die Gesinnungen.

Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen, das ist die Hauptlinie der Nazis, für deren Einhaltung es angesichts des dumpfen Anhangs freilich weithin an Kräften fehlt. Für öffentliche Auftritte und neuerdings für Fackelzüge, auch nach altem Vorbild, reicht es. Schwieriger wird es mit dem, was sie mit einem Wortungetüm »Wortergreifungsstrategie« nennen und meint, dass man sich mit Gegnern in die offene geistige Feldschlacht einlassen und nicht mit dem Hersagen von Parolen begnügen soll. Für den Kampf um die Köpfe fehlt es weithin an Potenz, nicht jedoch an Aktionen und Gesten, die auf andere Weise Eindruck machen sollen und können. Aufgenommen wird die Tradition der sozialen Demagogie, die keine Skrupel kennt. Wahlanalysen zeigen, dass – beispielsweise im ostdeutschen Mecklenburg – ein erheblicher Teil der rechtsextremen Wähler aus Kreisen der Erwerbslosen und da wiederum von jungen Erwerbslosen gestellt wird.

Dagegen setzen Antifaschisten, ebenfalls traditionell, die Methode der Entlarvung dieser Demagogie als verlogen. Insbesondere die Kommunisten, nicht sie allein, haben die in der Endphase im Hinblick auf die Hitlerpartei energisch betrieben. Sie verwiesen auf wirkliche Ursachen der gesellschaftlichen Gebrechen und die Wahrheit war auf ihrer Seite. Nur: Geholfen hat es nichts. Notwendig ist, will man den Demagogen das Wasser wirklich abgraben, ein glaubwürdiges Gegenprojekt und das kann nicht allein – wie damals praktiziert – in der Entgegensetzung von Hakenkreuz und Sowjetstern bestehen.

Die erwies sich schon 1932 als verfehlt. Welche Grenzen sozialpolitischen Projekten in dieser kapitalistischen Gesellschaft auch immer gesetzt sind, in Gemeinden, Kreisen und Ländern muss praktisch nachgewiesen werden, wer Interessen der Benachteiligten, der Schwachen, der Hilfe Suchenden und Ratlosen vertritt. Da darf den Nazis die Initiative nicht überlassen werden, wenn auch nicht verhindert werden kann, dass sie sich da oder dort anschmieren und als so genannte Trittbrettfahrer profitieren wollen.

Verbunden wird, wieder nach erfolgreichem Vorbild, die soziale mit der nationalen Demagogie, die aktuell ihren Stoff aus den Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen bezieht, auf die junge Nazis die Devise vom »deutschen und europäischen Nationalismus« entgegenhalten. Sie können darauf setzen, dass die weithin unverstandenen, hochkomplizierten Prozesse weltwirtschaftlicher Entwicklungen, vorangetrieben von den Großmächtigen der Banken, der Industrie, des Handels und der Dienstleistungen, Raum für ihre agitatorischen Argumente schaffen. Die sind mit Verweisen auf anonyme ökonomische Kräfte leicht zu haben, etwa durch die Anprangerung von in der Ferne entschiedenen Schließungen von Werken im eigenen Lande, wobei – wie eben deutlich geworden – das »deutsche« Kapital keine andere Rolle spielt als das »US-amerikanische«. Auf dieser Linie liegen auch Mobilisierungen rechtsextremer Kräfte gegen den bevorstehenden G-8-Gipfel in Heiligendamm. Mit dieser Haltung können sich die Rechtsextremen freilich, nicht anders als die Hitlerpartei in ihren Anfängen, jenseits von betroffenen Schichten der Arbeiter und Angestellten nur beim Kleinbürgertum und der kleinen Bourgeoisie Sympathien erwerben.

Nun haben auf dem weiten Feld, auf dem sich nationalistische Stimmungen wecken lassen, die Rechtsextremen Konkurrenten bis in die Mitte der Gesellschaft bekommen. Das Kapital hat bei allen Bekenntnissen zu Europa und uneingeschränkter Weltoffenheit den Nationalismus längst als eine segenbringende Kraft wiederentdeckt. Die Kampagne »Du bist Deutschland« war nicht nur von der äußersten Rechten getragen. Ihr Kern bestand im Appell, mehr Verantwortung zu übernehmen und vor allem am Arbeitsplatz, also angestrengter zu malochen. Die Ideologen und Politiker der gemäßigten Rechten und der Mitte behaupten sämtlich, einen »gesunden Nationalismus«, eine »gesunde Vaterlandliebe« zu verfechten und nur zu beanspruchen was jeder anderen Nation zugebilligt würde, ihrer Liebe Ausdruck zu verleihen. Dem ließe sich glauben, wäre da nicht stets die Vorstellung untermischt, die Deutschen müssten immer und überall die Größen sein.

Auf welchen Wegen auch immer: den Nazis und den ihnen verwandten Rechtsextremisten ist kein Durchbruch zu einer Massenbewegung von innenpolitischem Gewicht gelungen und kurzfristig steht der auch nicht in Aussicht. Und das, wiewohl es in der Bundesrepublik weithin ein gedankliches und Stimmungspotenzial gibt, das mit dem ihren hochgradig verwandt ist. Worin besteht es: Zum ersten aus einer sich ausbreitenden allgemeinen Unzufriedenheit mit der Politik der Herrschenden, einer Haltung, die als Politikverdrossenheit bezeichnet wird und sich vornehmlich in der Abstinenz bei Wahlen und staatlichen Befragungen, jedoch auch im allgemeinen Rückgang des Grades politischer Organisiertheit äußert. Diese Haltung verbindet sich mit der anscheinend unumstößlichen Erfahrung: Wir können ohnehin nichts ändern, wobei keine Selbstbefragung erfolgt, ob man an Änderungsversuchen überhaupt je beteiligt war. Diese Resignation, die den am Wirtschafts- und Staatsruder Stehenden willkommen sein mag, haben Rechtsextreme – nota bene: so wenig wie Sozialisten – aufbrechen können. Ihre Mobilisierungsversuche sind erfolglos geblieben oder nach Anfängen – erinnert sei an die Montagsdemonstrationen – rasch zum Erliegen gekommen. Die Nazis können aber mit Genugtuung die Ergebnisse der eben veröffentlichen Bertelsmann-Studio über politische Ansichten der Deutschen lesen, die ihnen das Vorhandensein so vieler geistiger Sympathisanten erneut bestätigen, ein Potenzial, das sie bisher nicht zu aktivieren vermochten.

Das lässt die Schlussfolgerung zu, dass die Sympathisantenschar der rechtsextremen Parteien und Organisationen auf ideologischem Gebiet erheblich und sehr viel größer ist als auf politischem Gebiet. Anders gewendet heißt das auch: Gegen die Parolen der Nazis argumentieren bedeutet einen erheblichen Teil des Gedankenhaushalts von Millionen Deutschen treffen.

Welche Rolle spielen die Nazis und ihre Verwandten also in der Gesellschaft? Sie sind in diese nicht von irgendwelchen geheimnisvollen Mächten installiert zu wohl berechneten Zwecken. Aber einmal in ihr etabliert, nehmen sie da einen Platz ein, den sie unbesetzt finden und der ihnen von der Gesellschaft zugebilligt wird. Sie sind, was schon weitgehend vergessen ist, aber an vielen ihrer Aktionen abgelesen werden kann, 1. eine Kampfgruppe gegen alle Linken und sie beschäftigen durch ihr Dasein und Hervortreten die Linke und darüber hinaus antifaschistisch-demokratische Kräfte, von denen sich manche ausschließlich an ihnen verbrauchen und ihre eigene Aktivität auf Reaktionen auf Naziaktionen beschränken.

Diese Konstellation ist allen willkommen, die davon – beispielsweise als Konservative – ihren Vorteil ziehen, sie nämlich geraten aus dem Visier oder an dessen Rand. Und 2. bilden sie ein Auffanglager für Unzufriedene, die unter Umständen sich eben dieser Linken zuwenden würden. Diese aber gilt den Herrschenden nach wie vor als der unbequemere, prinzipielle und vor allem perspektivisch nicht zu unterschätzende Gegner. Davon zeugt am, stärksten der Dauerdruck, der auf die Linke mit dem Ziel ausgeübt wird, ihre Programmatik und Praxis zu entschärfen, womit sie sich dann selbst als eine gesellschaftskritische und -verändernde Kraft diskreditiert und ausschaltet. Davon profitieren indirekt auch die Rechtsextremen, die sich dann als einzige wirkliche Revolutionäre, als nationale Sozialisten, als Kräfte des Widerstands usw. herauszustellen vermögen.

Was aber ist in dieser Konstellation der Platz der VVN-BdA? Sie konfrontiert sich in erster Linie, wie im Namen gesagt, mit den Faschisten in allen ihren Spielarten. Das steht im Kern außer der Debatte, wenn auch immer wieder darüber gesprochen werden muss, welche Instrumente am geeignetsten sind, mit Erfolg eingesetzt zu werden. Auch dafür gibt es keine allgemein und dauernd gültige Regeln. Wohl aber lässt sich eine gewisse Einseitigkeit des Vorgehens beobachten. Und manche Vorschläge werden glatt abgelehnt. Noch einmal: Es gibt keine Rezepte, es sollte aber auch keine Dogmen geben. Was zu tun ist, sollte in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation entschieden werden. Gleichzeitig und in anderer Weise und mit anderen Zielen konfrontiert sich die VVN-BdA aber auch jenen, die den Nazis in irgendeiner Weise Vorschub leisten oder die Mittel, über die sie gebieten, nicht und entgegen eigenen Beteuerungen nicht entschlossen einsetzen. In die Bekämpfung der rechtsextremen Parteien und Kräfte bringt die VVN-BdA Erfahrungen vieler Generationen ein, die besagen, dass ihnen auf drei Ebenen entgegengewirkt werden muss: politisch, ideologisch und ökonomisch.

Politisch geschieht das in der BRD vor allem durch die Initiativen von Bürgern in Parteien und Organisationen, in permanenten wie spontanen Bündnissen und durch den Einsatz der Mittel des Staates, von der Aufklärung und Bildung bis zur Repression. Dieser Einsatz des Staates aber ist nach allen Erfahrungen fragwürdig, weil uneindeutig und inkonsequent und von vielen Vorbehalten und Vorurteilen gegen Antifaschisten begrenzt. Dem Mannheimer Urteil gegen den Holocaustleugner Zündel steht das Karlsruher im Falle der Parole »Ruhm und Ehre der Waffen-SS« entgegen. Schutz und Verbote von Nazi-Aufmärschen wechseln einander ab. In der Justiz lässt sich immer wieder ein merkwürdiges Rechtsempfinden gegenüber Erbschaften der Vergangenheit beobachten.

Ideologisch leistet die VVN-BdA seit Jahrzehnten eine aufopferungsvolle Arbeit zur Aufklärung über den Faschismus und seine Verbrechen, begonnen schon zu Zeiten, da die Kritik an der Nazivergangenheit in der westdeutschen Gesellschaft völlig unentwickelt war und die Kritiker beobachtet und angefeindet wurden. Heute beteiligen sich an der immer wieder berufenen »Bewältigung der Vergangenheit« viele Kräfte im Umfeld der Kirchen, verschiedenste humanistische Zusammenschlüsse und auch solche aus dem Staatsapparat. Über manche Inhalte dieser Tätigkeit lässt sich diskutieren und auch streiten. Die Aufklärung wird staatlich gefördert, wobei die Verteilung der Gelder unter die Beteiligten immer wieder für Kritik Ursache gibt.

Viel ist erreicht worden, um im öffentlichen Bewusstsein mahnende Erinnerung wach zu halten. Um die Gestaltung von Gedenkstätten, die Wahl von Straßennamen, Benennungen von Kasernen und Kriegsgerät sind lange Auseinandersetzungen mit wechselndem Ausgang geführt worden, zu denen es ohne Beteiligung der Antifaschisten nicht gekommen wäre. Die Bundesrepublik präsentiert sich vor dem Ausland als ein Musterschüler der Geschichte, was im Vergleich mit Japan oder Estland nicht schwer fällt. Dennoch werden im Staate BRD Verzeichnungen und Verfälschungen der Geschichte nicht so selten als Verdienste ausgegeben. Bilder wie die von »Hitler, der auch nur ein Mensch war«, von den »guten Seiten des Nationalsozialismus«, von »Deutschen als Opfer von Verbrechen der Alliierten« sind wohlfeil und im Schwange. Wer gegen sie angeht, sieht sich gleichsam in der Rolle des Don Quichotte und dessen Kampfes gegen die Windmühlen. Bis auf den Tag müssen Antifaschisten die andauernden Versuche abwehren, mittels der Formel von den zwei deutschen Diktaturen das »Dritte Reich« und die DDR in einen historischen Topf zu rühren und so das kritische Faschismusbild zu entschärfen.

Offenbar müssen wir uns auch mit der Tatsache beschäftigen, dass die Aufmerksamkeit der älteren Generationen für Fragen der Ideologie, der Geschichte und ihrer Erfahrungen erheblich größer ist als in Kreisen junger Antifaschisten. Hier geht eine in vielem lobenswerte Spezialisierung auf den Kampf um die Straße vor sich, der mit Mut, Einfallsreichtum und Ausdauer geführt wird, während die eigene Ausrüstung für den Kampf um die Köpfe als weniger wichtig angesehen und weithin vernachlässigt wird. Wohin dieses Unwissen führt, wird drastisch erkennbar am Zulauf der »Antideutschen«, einer besonderen Spezies von dieser Gesellschaft gut verträglichen Sektierern. Darüber hinaus erscheint geboten, sich nicht nur in den Argumenten, sondern auch in der Taktik der Nazis auszukennen, die sie bei der Verbreitung ihrer Geschichtslegenden befolgen. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus kann nach allen Erfahrungen allein auf den Ebenen von Politik und Ideologie nicht gelingen. Es muss jungen Leuten eine Lebensperspektive im hier und heute gegeben werden, damit ein Teil von ihnen nicht zur leichten Beute nazistischer Demagogen wird. Hier kann die VVN-BdA direkt nichts bewirken. Sie muss sich folglich mit jenen Kräften verbünden, die sozialpolitische Forderungen erheben, gerichtet an Gemeinden, Länder und das Staatsganze. Sie muss der immer wieder geäußerten Auffassung entgegentreten, dass Erwerbslosigkeit und Auftrieb für Rechtsextreme miteinander nichts zu tun hätten. Was also ist das PRO des Antifaschismus heute in diesem Deutschland? Das Eintreten für eine durch und durch demokratische Gesellschaft, ohne Massenarbeitslosigkeit, ohne Obdachlose, ohne ein um sich greifendes Verbrechertum, mit Chancen für alle Kinder und Jugendlichen, ihre Fähigkeiten auszubilden, mit einer stabilen Gesundheits- und Altersvorsorge – das alles sind Voraussetzungen und Bedingungen für eine Gesellschaft, in welcher faschistisches Gedankenungut dann wirklich nicht mehr als eine marginale und zu vernachlässigende Rolle spielen kann.